Jochen Stay
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für massenhaften Zivilen Ungehorsam
On-line gesetzt am 21. Februar 2022
zuletzt geändert am 18. Januar 2024

Jochen Stay ist am 15. Januar 2022 gestorben. - Er wird uns fehlen!
Informationen zu Jochens Wirken: https://de.wikipedia.org/wiki/Jochen_Stay

Jochen Stay war in den 80er Jahren aktiv in Kampagnen Zivilen Ungehorsams gegen die Stationierung von Pershing-II - Raketen und später in der Kampagne gegen Atommülltransporte nach Gorleben. Er reflektiert hier über seine Erfahrungen mit massenhaftem Zivilen Ungehorsam und fragt : Sind gewaltfreie Aktionen Zivilen Ungehorsams mit der Beteiligung tausender Menschen weiterhin eine konkrete Perspektive für die Friedensbewegung ?

1987 wurde von Reagan und Gorbatschow der INF-Vertrag zur Abrüstung der nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa unterzeichnet. Damals lebte ich hier in Schwäbisch Gmünd und Mutlangen und war aktiv in der damaligen Pressehütten-Gruppe, der Dauerpräsenz vor den Toren des Pershing-2-Depots. Ein Jahr darauf bin ich weggezogen. Das letzte Mal war ich 1991 hier. Dieses Gelände, auf dem diese Konferenz stattfindet, war noch US-Kaserne, oben in Mutlangen hatte die US-Anny noch ihr Gelände. Jetzt komme ich wieder und sehe ganz konkret die Veränderungen, kann damals und heute vergleichen. Aus dem Raketendepot ist ein Neubaugebiet geworden, aus den Bunkern für Atomsprengköpfe das Rollsplitt-Lager der Straßennieisterei, aus der Kaserne ein Universitätsgelände.

Diejenigen, die weiter in der Region gearbeitet haben, haben diese Entwicklung verfolgt und zum Teil mitgestaltet. Aber für mich ist es überwältigend mit eigenen Augen zu sehen, direkt mit meinen Sinnen wahrzunehmen, was ich durchaus in der Presse weiter mitverfolgt habe, aber innerlich längst abgehakt hatte.
Ich sitze hier als einer, der inzwischen den Blick von außen auf die Friedensbewegung hat und kann den Bogen schlagen von den aufregenden und bewegenden Mutlanger Jahren Mitte der 80er zur Situation der Friedensbewegung heute.

Ich habe sehr viel aus Mutlangen mitgenommen, hatte unendlich viel gelernt über Zivilen Ungehorsam, über Macht und Gegenmacht von unten, über politische Abläufe, aktive Auseinandersetzung mit der Justiz und dem Knast, das Schaffen von Öffentlichkeit und das Planen effektiver Aktionen. Mutlangen war Symbol für vieles, unter anderem war es für eine ganze Generation eine phantastische politische Lehranstalt, immer unter dem Motto ‚learning by doing".

Ich kam direkt nach dem Abitur nach Mutlangen. Und als ich einige Jahre später von hier wegging, da hatte ich mich entschieden: Widerstand gegen menschenverachtende Politik sollte im Mittelpunkt meines Lebens stehen. „Unser Mut wird langen" war ein wichtiges Motto der Zeit. Heute kann ich sagen: Der Mut, den ich in Mutlangen gewonnen habe, der Mut sich immer wieder einzumischen und niemals aufzugeben, der Mut auch schwierige und scheinbar hoffnungslose Auseinandersetzungen aufzunehmen, dieser in Mutlangen gewonnene Mut, der langt bei mir bis heute und ich glaube, er wird mich mein ganzes Leben nicht mehr verlassen.

Wie andere auch habe ich vieles vom hier Gelernten an anderen Orten, in anderen politischen Konflikten immer wieder neu eingesetzt. Ich gehöre zur Gruppe derjenigen, die sich nach ihrer Mutlanger Zeit vor allem in der Anti-Atom-Bewegung für die Stillegung der AKWs und gegen Castor-Atommülltransporte engagiert haben. Ich habe von Mutlangen ein Thema mitgenommen und mich seither immer wieder damit beschäftigt: Es ist die Frage, wie es gelingn kann, einen politischen Konflikt durch massenhaften Zivilen Ungehorsam aktiv zu beeinflussen. Meine Mutlanger Erfahrung: Wenn sich die kleinen scheinbar ohnmächtigen Menschenzusammenschließen und sich wehren; dann haben es die scheinbar Mächtigen unendlich schwer, ihre Pläne umzusetzen.

Massenhaften Zivilen Ungehorsam, das haben wir hier in Mutlangen in den 80er Jahren gelebt und erlebt. Tausende haben sich an Sitzblockaden beteiligt. Nach Mutlangen gab es in der Friedensbewegung und der Anti-Atom-Bewegung immer wieder Kampagnen und Aktionen Zivilen Ungehorsams, beispielsweise gegen Atomtests, gegen den 2. Golfkrieg, an AKW-Standorten oder Atomwaffenlagern. Oft begannen diese Kampagnen ebenfalls mit dem Anspruch, die Massen in mobilisieren. Gelungen ist dies nicht.
Viele dieser Aktivitäten waren gemessen an ihrer eher geringen Zahl von Teilnehmerinnen trotzdem erstaunlich erfolgreich - vor allem darin, ein vorher nicht bekanntes Problem öffentlich zu machen.

Manchmal wurde noch mehr erreicht: Im pfälzischen Fischbach haben 500 Menschen eine Woche lang das Giftgaslager blockiert und so mit dazu beigetragen, dass diese schrecklichen Waffen abgezogen wurden. Auch die internationale Atomteststoppkampagne hat viel bewegt.
Aber dass wirklich viele Tausende der Regierung punktuell den Gehorsam aufkündigen und damit massiven politischen’ Druck entwickeln, das hat es zwar in grandiosem und unvergleichlichem Ausmaß 1989 in der DDR gegeben, aber in der Bundesrepublik nach Mutlangen lange Jahre nicht mehr.

Erst Mitte der 90er Jahre haben sich in der Kampagne „X-tausendmal quer" gegen die Castor-Transporte nach Gorleben wieder Tausende am Zivilen Ungehorsam beteiligt. Bisheriger Höhepunkt war die große gewaltfreie Sitzblockade 1997, bei der 52 Stunden lang die Transportstrecke besetzt war, am Ende von 9.000 Menschen. Nach dieser Aktion wurden die Atommülltransporte nach Gorleben für vier Jahre ausgesetzt und erst von der rotgrünen Bundesregierung im Jahr 2001 wieder aufgenommen. Auch bei den Transporten seit 2001 gab es unter dem Motto „X-tausendmal quer" große Sitzblockaden.

„X-tausendmal quer" hat sich am in Mutlangen von der „Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung" und anderen erarbeiteten odet weiterentwickelten Instrumentarium für massenhaften Zivilen Ungehorsam bedient: Bezugsgruppen und Sprecherinnenrat, Konsensentscheidungen, gemeinsame Übereinkunft aller Aktivistlnnen zum Charakter der Aktionen, Selbstverpflichtung zum Ungehorsam und Solidaritäts-erklärungen, regelmäßige Rundbriefe an alle Beteiligten. An „X-tausendmal quer" lässt sich aber auch feststellen, an welchen Punkten sich eine solche Kampagne heute von dem unterscheidet, was vor fast 20 Jahren noch üblich war.

Meine Frage ist: Sind gewaltfreie Aktionen Zivilen Ungehorsams mit der Beteilung Tausender auch wieder eine konkrete Perspektive für die Friedensbewegung. heute? Denn dass auch in der jetzigen,weltweiten politischen Situation mutiges Einmischen dringend geboten ist, notwendig im Wortsinne, das ist wohl unbestritten.

Ich möchte deshalb die Rahmenbedingungen und die praktische Durchführung in den 80er Jahren und heute miteinander vergleichen. Klar ist, das haben die vielen gescheiterten Versuche gezeigt, nicht jedes Thema, nicht jede politische Situation und nicht jeder Aktionsansatz eignet sich dazu, Tausende zum Zivilen Ungehorsam zu bewegen. Es müssen also eine ganze Reihe von Rahmenbedingungen. stimmen, damit es funktioniert. Ich zähle zehn Punkte auf, die sich sowohl in Mutlangen wie bei X-tausendmal quer finden lassen, ohne zu behaupten, damit so etwas wie ein Erfolgsrezept bieten zu können:

1 Es geht um ein Thema, dass von vielen Menschen als konkrete Bdrohung empfunden wird. Die persönliche Betroffenheit ist ein wesentlicher Faktor.
Dabei geht ist nicht nur um ein Bedrohungsgefühl für die eigene Person. Auch wachsende Sorgen um kommende Generationen oder um die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens können so essentiell sein, dass viele Menschen den Schritt zum Zivilen Ungehorsam gehen. Jedenfalls geht die Betroffenheit vieler dem schwindenden Gehorsam voraus. Ein Schwachpunkt bei den gescheiterten Ansätzen, zu massenhaftem Zivilen Ungehorsam zu kommen, war es, diese Reihenfolge umzudrehen... Da wurde versucht, über den Ungehorsam weniger überhaupt erst die Betroffenheit vieler herzustellen. Zwar ist es damit durchaus gelungen, Themen öffentlich bekannter zu machen, aber das reicht nicht aus, damit sich wirklich Tausende an Aktionen beteiligen.

2 Es geht um ein Thema, bei dem viele - Menschen den Eindruck haben, dass sich die Parteipolitik mächtigen Interessen unterordnet und nicht den Willen der Bevölkerung umsetzt.
Diese Zuspitzung haben wir in den 80er Jahren beim Thema Atomraketen-Stationierung erlebt und in den 90er Jahren bei den Castor-Transporten. Nach dem Regierungswechsel zu rot-grün änderte sich zwar rein faktisch so gut wie nichts in der Atompolitik, aber das Gerede vom Atomkonsens und Ausstieg blieb nicht ohne Folgen. So sind heute zwar immer noch diejenigen zum Zivilen Ungehorsam bei Castor-Transporten bereit, die schon länger dabei sind und die verlogene Politik der Regierung durchschauen. Aber der Zulauf von neuen Aktiven hat abgenommen, weil viele das Problem entweder für nicht mehr existent ansehen oder das Vertrauen in die Regierung haben, dass diese zu einer Lösung beiträgt. Spannend ist die Frage in der aktuellen Situation Irak-Krieg. Kanzler Schröder und Außenminister Fischer üben sich in Antikriegs-Rhetorik, unterstützen aber faktisch auf vielen Gebieten den Truppenaufmarsch der Briten und US-Amerikaner, beispielsweise durch die völkerrechtswidrige Gewährung von Überflugrechten. Wie weit es in dieser Situation zu massenhaftem Zivilen Ungehorsam kommen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch eine offene Frage.

3 Es ist gelungen, aus dem großen allgemeinen und hochkomplexen Konfliktthema einen besonders brisanten, besonders anschaulichen aber auch hochsymbolischen Teil herauszunehmen und um diesen Teilbereich einen Konflikt aufzubauen, der für das ganze große Thema steht, pars pro toto, ein Teil steht für das Ganze.

In Mutlangen symbolisierte die Pershing 2 die weltweite atomare Aufrüstung, in Gorieben stehen die Castor-Transporte für ungelöste Atommftll-Entsorgung und den Betrieb der AKWs. Wichtig ist dabei, den Konflikt zwar am Beispiel zuzuspitzen, aber dabei nie den Blick für das Ganze zu verlieren. So hat Bundesumweltminister Trittin den Bau neuer Atommüll-Zwischenlager an den Reaktorstandorten damit begründet, dass dann ja weniger Castor-Transporte unterwegs wären und dies den Forderungen der Anti-AtomBewegung entspräche. Hier hat sich das „Stop Castor" ein wenig verselbständigt und es ist nicht mehr deutlich genug, dass es ja eigentlich um den Stopp der Atommüll-Produktion geht.

4 Es ist gelungen, den Konflikt an einem konkreten Ort zuzuspitzen - Muttangen, Gorleben - so dass der Ort selbst große symbolische und damit letztlich auch identitätsstiftende Bedeutung bekommt.

Für viele sind die gemeinsam mit ihrer Aktionsgruppe unternommenen Fahrten zu einem solchen Widerstands-Ort Highlights in ihrer politischen Betätigung, verstärkt noch dadurch, dass mensch hier auf viele Gleichgesinnte trifft und nicht so marginalisiert ist, wie vielleicht am eigenen Wohnort. Diese Fahrten geben Kraft für die Mühen des politischen Alltags. Besonders hervorzuheben sind hier auch die sich entwickelnden Beziehungen zwischen den Aktiven rund um den Ort des Geschehens und denjenigen aus der ganzen Republik, die immer wieder zu Aktioneu anreisen. Mutlangen ist hier insofern ein Sonderfall, dass es aus der Bevölkerung der Region relativ wenig Unterstützung für die Protestbewegung gab. Kompensiert wurde dies mit besonders großem Einsatz der Aktiven in Pressehütte und Carl-Kabat-Haus. Im Wendland ist es für die „Auswärtigen" immer wieder faszinierend, dass der Widerstand quer durch alle Bevölkerungsschichten geht, von der Gräfin bis zum Bauern, von der Bankerin bis zum Künstler, von der Handwerkerin bis zum Freak.

5 Die jeweilige Kampagne bekommt Energie durch eine gesellschaftliche Vision, die weit über das politische Teilziel hinausgeht und die sich im Umgang miteinander, im Innenleben der Kampagne wiederspiegelt. Ich nenne hier nur die basisdemokratischen Ansätze, Konsensmodell, Bezugsgruppen und Sprecherinnenrat.

Mit gesellschaftlicher Vision meine ich hier nicht unbedingt eine konkrete politische Richtung oder ein ausgearbeitetes Gesellschaftsmodell, sondern eher ein diffuses und damit für viele akzeptables Ziel von Herrschaftsarmut, Basisdemokratie und Kooperation. Im Aufruf von "X-tausendmal quer" ist die Rede von einer angestrebten „Gesellschaft, die ohne menschenfeindliche Technik und Polizeistaat auskommen kann." Konkreter ist die Utopie aber im Umgang miteinander, vor und während den Aktionen. Massnhafter Ziviler Ungehorsam kann nur funktionieren, wenn sich jede und jeder Aktivistln für das eigene Handeln verantwortlich fühlt und diese Verantwörtung nicht an andere delegiert. Auch Mehrheitsentscheidungen sind faktisch undenkbar, denn ’es kann ja nicht sein, dass eine Mehrheit der Minderheit beispielsweise vorschreibt, auch beim Einsatz von Wasserwerfern auf der Straße sitzen zu bleiben. Deshalb sind das Konsensmodell und die Organisierung über Bezugsgruppen hier so wirkungsvoll. Viele deijenigen, die 1997 an der ’X-tausendmal quer-Blockade in Dannenberg teilgenommen haben, waren fast mehr darüber begeistert, wie 9.000 Menschen es selbst unter massivem äußeren Druck schaffen, Konsensentscheidungen zu treffen, als über die Tatsache, dass es gelang, den Castor-Transport viele Stunden aufzuhalten und damit ein politisches Signal zu setzen.

6 Die jeweilige Kampagne Zivilen Ungehorsams wird getragen von einem Kreis von Aktivistinnen, die sich mit ihrer ganzen Kraft und quasi Full-Time über Jahre für die Umsetzung ihrer Vision einsetzen.

In Mutlangen gab es zum einen die Dauerpräsenz auf dem Grundstück der Pressehütte und zum anderen eine größere Gruppe von Aktivistlnnen aus der „Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung", die zuerst in Tübingen und später im Mutlanger Carl-Kabat-Haus quasi Tag und Nacht nichts anderes tat, als die BIockadeaktionen zu koordinieren. So entstanden zwei aktive Kerne der Konflikts, die durch ihre Kontakte in die ganze Republik (und darüber hinaus) und ihre bis an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten gehendes Engagement rund um die Uhr dafür sorgten, dass die Auseinandersetzung lange Jahre aufrechterhalten werden konnte. Bei ’X-tausendmal quer" gibt es einerseits einen Stamm von Aktiven aus dem Wendland, zum anderen eiri Netzwerk von sehr Erfahrenen aus dem ganzen Land, die vernetzt über elektronische Kommunikation vor jedem Castor-Transport erstaunliches In Sachen Mobilisierung, Aktionsplanung und Aufbau von Infradtruktur leisten. Die Koordinationsgruppe von "X-tausendmal quer" bekommt ihre Kontinuität darüber hinaus durch eine große Offenheit für Neueinsteigerinnen, Transparenz der Arbeitsvorgänge und flache Hierarchien: Jede/r kann jederzeit einsteigen und mitbestimmen.

X-tausendmal quer Dokumentation- Gorleben - Castor-Blockaden 1997

7 Es wird eine konkrete Form Zivilen Ungehorsams gefunden, die von - ihren Konsequenzen nicht zu viel aber auch nicht zu wenig Folgen hat. Die begrenzte Regelverletzung und die Bereitschaft zum Tragen der Folgen öffentlicher Aufmerksamkeit führen dazu, dass viele bereit sind, diesen Schritt zum Zivilen Ungehorsam zu wagen, weil die juristischen und körperlichen Folgen überschaubar sind.

Ziviler Ungehorsam kann sehr radikal und weitgehend sein. Ein Beispiel dafür sind die Pflugscharaktionen, bei denen kleine Gruppen von Aktivistlnnen in Militärgelände eindringen und versuchen, Waffen unbrauchbar zu machen. Wer aber erreichen will, dass die Regierung durch massenhaften Entzug von Loyalität unter Druck gerät, der/die muss eine Form Zivilen Ungehorsams finden, an der sich möglichst viele Menschen beteiligen. Die persönlichen Folgen müssen also überschaubar sein. Die Sitzblockaden von Mutlangen hatten normalerweise eine Verurteilung zu einer geringen Geldstrafe zur Folge, ohne Eintragung einer Vorstrafe ins Führungszeugnis. Die Sitzblockaden in Gorleben könnten theoretisch als Ordnungs-widrigkeit mit einem Bußgeld geahndet werden. Der Aufwand ist den Behörden aber in der Regel zu groß, müssten doch von X-tausenden in kurzer Zeit die Personalien festgestellt werden. Da setzt die Polizei die Priorität eher auf das zügige Freiräumen der Castor-Strecke. So spielt im Wendland weniger die juristische Folge der Aktion eine Rolle, als vielmehr die mögliche Polizeigewalt. Diese ist unkalkulierbarer als ein Bußgeldbescheid, aber durch eigenes Verhalten oft (wenn auch nicht immer) zu beeinflussen. Durch beides - sowohl die Bereitschaft, juristische Folgen zu tragen als auch die Bereitschaft, der Polizeigewalt nicht freiwillig zu weichen - wird die Öffentlichkeit wachgerüttelt. Fast 3.000 Verurteilungen in Mutlangen und mehr als 100 Menschen, die statt ihre Geldstrafe zu zahlen in den Knast gingen, blieben nicht ohne Folgen. Genauso hatte die gewaltsame Räumung der "X-tausendmal quer-Blockade 1997 weitgehende politische Auswirkungen. Weltweit waren die Bilder von Polizeigewalt gegen Tausende sitzende Menschen Meldung Nr. 1 in den Fernsehnachrichten. Danach fuhr vier Jahre lang kein Castor-Transport mehr nach Gorleben.

8 Die Aktionen entwickeln sich zu einer Mischung aus effektiver Behinderung der Maschinerie und Ritual. Rituale sind für mich nichts negatives, so lange sie mit Leben gefüllt sind.
Die Debatte wiederholt sich: In Mutlangen wurde diskutiert, ob es besser sei, gut vorbereitet zu einem selbst gewählten Zeitpunkt das Tor der Raketenbasis zu blockieren, auch wenn gerade kaum Militärverkehr rollt oder ob es effektiver sei, immer dann zu blockieren, wenn die Atomraketen ins Manöver fahren sollten. In Gorleben sind die einen für eine frühzeitige Besetzung. der Transportstrecke, damit die Chance größer ist, dort auch noch ohne größere Polizeigewalt anzukommen und damit ein deutliches politisches Zeichen zu setzen, auch auf die Gefahr hin, schon lange vor dem Castor wieder geräumt zu sein. Die anderen wollen den Transport möglichst lange aufhalten und deshalb erst kurz vor dessen Ankunft an der Blockadestelle auf die Strecke. Beide Motive haben ihre Berechtigung und so ist es die Kunst, eine gute Mischung aus politischem und materiellem „Sand im Getriebe" zu schaffen. Die Ritualisierung von Aktionsformen führt zwar oft zu einer Abschwächung des Konfliktes, weil die Polizei weiß, was passieren wird. Sie ermöglicht aber auch den eher Ängstlichen die Teilnahme, weil sie besser überblicken können, was auf sie zukommt. Wenn es gelingt, den sehr unterschiedlichen Bedürfnissen im Aufbau einer Kampagne Rechnung zu tragen, kann sie viele Menschen erreichen und mit einbeziehen

9 Die Mobilisierung zu den Aktionen ist nicht unverbindlich sondern wird über Selbstverpflichtungs- Erklärungen letztlich sehr persönlich und verbindlich geführt.
Dies ist ein oftmals stark unterschätzter Faktor. Es ist ein großer Unterschied, ob ich mit Flugblättern und Plakaten unverbindlich zu einer Aktion einlade, oder ob ich durch das Angebot einer Selbstverpflichtungs-Erklärung viele Menschen dazu bringe, sehr gründlich darüber nachzudenken und zu entscheiden, ob sie sich an einer Aktion beteiligen wollen. Diejenigen, die unverbindlich mobilisiert werden, kann ich schwer erreichen, weil ich sie nicht kenne. Wer eine Selbstverpflichtung unterschrieben hat, ist mit Adresse bekannt und kann mit weiteren Informationen versorgt werden, um gut auf die Aktion vorbereitet zu sein oder noch weitere Menschen zu mobilisieren. Manche steigen auch in die organisatorische Arbeit ein und auch nach einer Aktion sind alle noch erreichbar. Außerdem kann die Zahl der „Anmeldungen" auch verwendet werden, um politischen Druck zu machen. Und schließlich erleichtert es die organisatorische Planung, wenn klar ist, wie viele Menschen sich ungefähr an den Aktionen beteiligen.

10 Die jeweiligen Aktivistinnen haben die Möglichkeit, sich gründlich vorzubereiten. Und es wird viel Aufwand betrieben, damit die organisatorischen Rahmendbedingungen-so gut sind, dass der oder die einzelne Block iererin sich wirklich aufs Blockieren konzentrieren kann.
Angebote, sich vor einer Aktion Zivilen Ungehorsams mit einem Training vorzubereiten, werden meist nur von einer Minderheit der Aktivistlnnen genutzt. Trotzdem entsteht so ein gut vorbereiteter Kern, der die Qualität der Aktionen durch klares Auftreten und gut funktionierende Gruppen steigert. Wenn dann noch dafür gesorgt ist, dass die Blockiererinnen mit allem Notwendigen versorgt werden (Informationen, Sitzunterlagen, Essen, warme Getränke, juristische Unterstützung, Abholservice bei Ingewahrsamnahme usw.) und sich somit voll auf das Geschehen der Aktion konzentrieren können, dann steigert auch dies die Intensität des Widerstandes.
Manchmal gibt es hier Extreme: Bei einer nächtlichen Aktion von "X-tausendmal quer" wurden an die Blockiererlnnen heiße Wärmflaschen und Kuscheltiere verteilt. Manchmal reicht es auch schon, wenn sich in jeder Bezugsgruppe diejenigen, die keinen Ungehorsam leisten wollen, als Unterstützerinnen für die anderen nützlich machen.
Soweit einige Gemeinsamkeiten. Es gibt aber auch Unterschiede, Faktoren, die sich seither gewandelt haben. Auch davon will ich einige benennen:

• Der Umgang mit Zivilem Ungehorsam ist nach meiner Wahrnehmung funktionaler geworden. Wurde in Mutlangen noch sehr genau und gründlich argumentiert, warum in der Frage des atomaren Wettrüstens der Schritt zur Gehorsamsverweigerung legitim ist, so wird Ziviler Ungehorsam von vielen inzwischen als selbstverständliche Aktionsform empfunden, die dazu geeignet ist, öffentliche Aufmerksamkeit in höherem Maße auf sich zu ziehen als eine normale Demo. Ziviler Ungehorsam ist aber auch deshalb so attraktiv, weil damit der oder die Einzeh’ie die Möglichkeit bekommt, mit dem eigenen Körper Sand im Getriebe zu sein.

• „X-tausendmal quer" arbeitet weniger mit bereits bestehenden Gruppen, die gemeinsam anreisen. Zwar gibt es sie teilweise noch immer und sie sind wichtiger Kern der Aktion. Aber die meisten Blockiererinnen reisen als einzelne Person oder zu Wenige» an und bilden erst vor Ort Bezugsgruppen. Deshalb braucht es direkt vor jeder Aktion ein bis zwei Tage Vorbereitung, damit aus einem zusammengewürfelten Haufen eine aktionsfähige Gemeinschaft entsteht. Aber selbst diese Großgruppe ist dann nur der erweiterte Kern. Die meisten Aktiven kommen gänzlich unvorbereitet und spontan direkt zur Aktion dazu und diese muss entsprechend so organisiert sein, dass dies möglich ist.
Dieser Aspekt, dass sich heutzutage viele spontan und unorganisiert beteiligen, muss also in der Mobilisierung und der Aktionsvorbereitung bedacht werden.

> Die Aktionen sind ein Stück weit „militärischer" geworden. Da die Polizei mit großflächigen Versammlungsverboten und rekordverdächtigen Großeinsätzen versucht, jegliche Aktionen schon im Voraus zu verhindern, ist inzwischen der Weg zum Aktionsort oft der schwierigste Teil der Sache. Wer einmal bei einer Aktion von „X-tausendmal quer" miterlebt hat, wie Tausende quasi in Marschkolonnen über große Felder und Wiesen auf die Transportstrecke und die sie sichernden Polizeikräfte zugehen, fühlt sich an Bilder aus den napoleonischen Kriegen erinnert. Der Unterschied wird erst deutlich, wenn wir uns kurz vor den Polizeiketten auffächern und auf sehr ruhige aber entschlossene Weise durchkommen. Wir nennen es durchfließen und sind jedes Mal selbst wieder überrascht, dass es erstaunlich gut funktioniert.

> Was sich auch geändert hat, ist die Wahrnehmung von Erfolg. Zwar waren auch in den 80ern die Ziele sehr hochgesteckt, aber den einzelnen BlockiererInnen war klar, dass sie mit ihrer Aktion nicht gleich die Abrüstung erreichen können. Heute sind viele anspruchsvoller und erhoffen sich kurzfristigeren Erfolg.
Wer Aktionen oder Kampagnen massenhaften Zivilen Ungehorsams organisieren möchte, sollte die Erfahrung der älteren und jüngeren Bewegungsgeschichte nützen. Ein Versuch dazu ist die Kampagne „resist - sich dem Irak-Krieg widersetzen", die unter anderem große Sitzblockaden an der Rhein-Main-Airbase in Frankfurt organisiert. Erstaunlicherweise haben bis Ende März 2003 über 7.000 Menschen eine Selbstverpflichtungserklärung zum Widerstand unterschrieben und diese Zahl wächst weiter.
„resist" unterscheidet sich meines Erachtens beispielsweise von der Kampagne gegen die noch in der Bundesrepublik lagernden Atomwaffen und andere Kampagnen Zivilen Ungehorsams der Friedensbewegung in den letzten Jahren dadurch, dass es um ein Problem geht - den Irak-Krieg - das vielen Menschen konkret auf den Nägeln brennt. Viele sind dagegen, wollen etwas tun, wissen aber nicht was, und „resist" gibt auf diese Frage eine mögliche Antwort. Viele derjenigen, die bei „resist" einsteigen, stammen nicht aus bestehenden Friedensgruppen, sondern sind Menschen, die sich entweder überhaupt zum ersten Mal politisch engagieren, oder zumindest zum ersten Mal friedenspolitisch.

• Wenn die Friedensbewegung hierzulande in den letzten zwölf Jahren größere Mobilisierungserfolge hatte, waren es oft Strohfeuer am Anfang eines Krieges, eine große Demo, einige regionale Aktivitäten. „resist" beinhaltet durch seine verbindlichere Form zumindest die Möglichkeit, länger anhaltenden Ungehorsam zu organisieren. Durch die Unterschriften ist ja eine ständige Kommunikation mittels Rundbriefen und Email möglich. Das ist keine Nebensächlichkeit, sondern genau das notwendige Mittel, um die zuerst nur kurzfristig Motivierten durch regelmäßige Information und Motivation bei der Stange zu halten.

Ich bin sehr gespannt, wie dieses Wagnis, Zivilen Ungehorsam zu einem Massenphänomen zu machen, weitergeht. Ich bin überzeugt, dass es nur dann gelingen wird, wenn sich auch viele Menschen beteiligen, und zwar aktiv beteiligen, deren Mut noch von Mutlangen herlangt. Deren Kompetenz ist gefragt, und ihre Erfahrung, dass es möglich ist, erfolgreich zu sein, wenn man nur einen langen Atem hat.


Vortrag auf der Perspektivkonferenz‚ "Mit neuer Energie für den Frieden", am 7.12.2002 in Schwäbisch Gmünd. Aus "das zerbrochene Gewehr" Rundbrief der War Resisters´ International , Nr. 69, März 2006

In den letzten Jahren hat Jochen seine Erfahrungen beim Aufbau der Organisation ´ausgestrahlt eingebracht: Siehe https://www.ausgestrahlt.de/

Für den Sommer 2022 plant .ausgestrahlt zwei große Anti-Atom-Radtouren unter dem Motto Dem Ausstieg entgegen! Vom 9.7. bis 30.7 zu den Standorten von Atomanlagen im Norden (Von Tihange in Belgien über Lingen, Stade und Brokdorf bis Gorleben )
https://www.ausgestrahlt.de/aktiv-werden/anti-atom-radtour-2022/anti-atom-radtour-nord/

und im Süden vom 14.8. bis 4.9. von Kahl am Main u.a. über Obrigheim , Necharwestheim, Gundremmingen über die Nordschweiz und Fessenheim nach Wyhl und Freiburg https://www.ausgestrahlt.de/aktiv-werden/anti-atom-radtour-2022/anti-atom-radtour-sued/