Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg
Im ersten Teil der Skizze wurde der Aspekt des Neuanfangs nach 1945 betont. Die Wenigen, die schon vor 1933 aktiv waren und den Naziterror überlebt hatten, waren nun alt geworden. Aus den ersten Nachkriegsjahren gibt es zudem wenig schriftliche Zeugnisse.
Die Ansätze für eine gewaltfreie Bewegung in Deutschland vor 1933 wurden bislang von der Forschung kaum wahrgenommen und müssen u.a. aus den Informationen über die Friedens-, Jugend- und Lebensreformbewegungen herausgefiltert werden. Um die zeitgeschichtliche Arbeit anzuregen, seien hier einige Spuren von Traditionslinien skizziert, die von der Weimarer Republik über das "Dritte Reich" bis in das Nachkriegsdeutschland-West reichten:
– Der "Bund der Kriegsdienstgegner"(BdK) mit 4 -5000 Mitglieder war 1919, d.h. schon vor Bestehen der WRI als erste deutsche KDV-Organisation gegründet worden. Sekretäre waren Armin T. Wegner, dann Martha Steinitz. Vor 1933 bekämpfte der BdK intensiv die Propaganda für einen Zwangs-Arbeitsdienst. Die Nazis zerschlugen den Bund, führende Mitglieder mussten ins KZ oder ins Exil gehen. Dr. Helene Stöcker, langjähriges Mitglied im Internationalen Rat der WRI und im Vorstand des BdK starb 1943 in New York, sie war über die Schweiz, England, Schweden in die USA geflohen. (1)
– Zur Friedensbewegung zwischen den beiden Weltkriegen zählten laut "War Resister" Nr. 50 im Sommer 1945 ausserdem die "Deutsche Friedensgesellschaft" (2), die "Frauenliga für Frieden und Freiheit", der "Deutsche Pazifistische Studentenbund", der "Kreis Jungjüdischer Pazifisten", die "Gruppe Revolutionärer Pazifisten" um Kurt Hiller und die "Deutsche Weltjugendliga".
– Historische Friedenskirchen wie die Quäker und Mennoniten wirkten gemeinsam mit dem Versöhnungsbund auf den Protestantismus ein. Pastor Wilhelm Mensching aus Petzen bei Bückeburg war schon 1916 persönlich Gandhi in Indien begegnet. Über Friedrich Siegmund-Schulze hatte der VB u.a. Kontakte zur Neu Sonnefelder Jugend, zu anarchoreligiösen Siedlern wie die Bruderhöfler um Eberhard Arnold (3) und Tolstoianern sowie zu Religiösen Sozialisten. Rudi Daur verband den aus der Jugendbewegung kommenden "Bund der Köngener" mit der religiös motivierten Friedensbewegung. (4)
– Innerhalb des Katholizismus knüpften Mitglieder des dem Friedensbund deutscher Katholiken (5) und aus Bünden der Jugendbewegung wie dem "Quickbom" nach 1945 an ihre Friedensarbeit in der Weimarer Zeit an: Pater F. Stratmann, Nikolaus Ehlen, Hermann Hoffmann (6), sowie in Österreich Kaspar Mayr und Johannes Ude. Die "Großdeutsche Volksgemeinschaft" z.B. war als römisch-katholische sozialistische (!) Jugendbewegung vor 1933 sogar eine Sektion der WRI. Sie war ein kleiner, gut organisierter Verband mit hohen Idealen und gab die Zeitschrift "Vom frohen Leben" heraus. Ihr Vorsitzender, Pater Ernst Thrasolt half einigen Mitgliedern der Friedensbewegung zur Flucht vor den Nazis, blieb aber selbst und musste zusammen mit anderen Mitgliedern ins KZ gehen.
– Daneben gab es freireligiöse Gruppen wie die in Hamburg um die ehemaligen Pastoren Wilhelm Heydorn (7) und Gustav Prietsch, die den Kirchlichen Dienst wegen ihrer humanistisch-pazifistischen Haltung aufgeben mussten und sich nach dem Krieg gegen die Wiederbewaffnung einsetzten.
– Kontinuität ermöglichten auch Mitglieder anderer Teile der Jugendbewegung , z.B. dem "Freideutschen Kreis", aus denen u. a. Herbert Grünhagen, Trude Westhoff, Walter Hammer, Heinz Kraschutzki und Helmut Hertling kamen.
– Einige überlebende Anarchisten arbeiteten nach 1945 weiter: so Willy Huppertz, Augustin Souchy (früher Sekretär im "Internationalen Antimilitaristischen Büro") oder Carl Langer von der "Kulturföderation Freier Sozialisten und Antimilitaristen". Ernst Friedrich, dessen früheres Anti-Kriegsmuseum in Berlin noch in guter Erinnerung war, kam 1951 erstmals nach seiner Flucht wieder nach Deutschland und hielt Vorträge in Stuttgart, Mannheim und München. Gelegentlich wurden Begegnungsfahrten zu seiner "Arche Noah" auf der Seine bei Paris organisiert, die er als Friedensboot eingerichtet hatte. Aus freiheitlich-sozialistischen Gruppen, wie dem "Internationalen Sozialistischen Kampfbund" (Nelsonianer) kamen z.B. Gustav Heckmann oder Heinz-Joachim Heydom.
Die gewaltfreie Bewegung von 1950 bis 1953
Die Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) war 1947 in Hamburg als deutsche Sektion der War Resisters´International neu gegründet worden. (8)
Die Artikel des ’Friedensboten’ (FB), ab 1950 Friedensrundschau' (FR), zeigen das starke Interesse in der deutschen Friedensbewegung an Gandhis Handeln und Denken, nach dessen Ermordung am 30. 1.1948 wurden zahlreiche Würdigungen und Erinnerungen veröffentlicht. {{(9) }} Es wurde über gewaltfreie Aktionen in aller Welt berichtet sowie über die Anwendung seiner Philosophie zur Kriegsverhinderung nachgedacht {{(10)}}. Heinz Kraschutzki, langjähriges Mitglied des WRI-Rates, trug zur Verbreitung des gewaltfreien Gedankengutes mit Berichten von Aktionen bei. Beim 'World Pacifist Meeting' in Santinitekan, Indienim Dezember 1949, sprach er im Auftrag der europäischen Delegierten:
"..{ Ein Volk vor allen anderen hat seine Freiheit auf ganz besondere Weise erkämpft: Indien. Wir sind im Vaterlande des gewaltlosen Widerstandes. Wir europäischen Delegierten, Vertreter eines Erdteils, der einst der mächtigste war und zugleich der am meisten gefährdetste ist, weil er die Gewalt angebetet hat, wir sind nach Indien gekommen, um hier zu lernen, wie man nicht durch Gewalt, sondern nur auf andere Weise wieder frei werden kann}...."
Eine spektakuläre Aktion starteten die Heidelberger Studenten Georg von Hatzfeld und René Leudesdorff kurz vor Weihnachten 1950, um [Helgoland durch eine gewaltfreie Besetzungsaktion zu befreien->https://www.ndr.de/kultur/geschichte/chronologie/Mit-Flaggen-fuer-eine-freie-Insel,zeitzeugeleudesdorff101.html]. Zur Entmiltarisierung der Insel, die im Krieg mit Bunkern für U-Boote und mit 5000 stationierten Soldaten zur Festung ausgebaut worden war, hatten die Engländer 1947 die größte nichtatomare Sprengung der Militärgeschichte vorgenommen, nachdem zuvor die Zivilbevölkerung aufs Festland evakuiert worden war. Danach benutzte die RAF (Royal Air Force) den Roten Felsen als Bombenabwurfgelände. Auch damals waren die Medien mitentscheidend für das Gelingen einer Aktion, denn ohne die Berichte über die Besetzung wären die beiden Studenten den britischen Bomben schutzlos ausgesetzt gewesen. Stattdessen entwickelte sich in der Öffentlichkeit eine Welle der Sympathie. Während der zuständige Landrat (SPD) in Pinneberg zuvor ungesetzliche Aktionen wie z.B. eine Besetzung abgelehnt hatte, machten sich zur Räumung ausgesandte deutsche Polizisten unterwegs selbst durch Alkoholgenuss dienstunfähig, sodass die Briten die Besetzer abholen mussten. Die Aktion wurde nach der Räumung mit wachsender Beteiligung wiederholt und mobilisierte unterschiedliche Kräfte: Gruppen der FDJ organisierten eigene Besetzungsaktionen, erfuhren aber im Gegensatz zu den "bürgerlichen" Aktivisten von der Justiz drastische Repressionsmaßnahmen. Die Bonner Regierung verhandelte mit der in London, Helgoländer Insulaner auf dem Festland begannen über ihre Rückkehr nachzudenken. {{(11)}} Acht Wochen nach der ersten Besetzung gab die britische Regierung Helgoland für die zivile Nutzung frei. Ein großer Erfolg, auch wenn es nicht im Sinne der Besetzer war, dass der Regierungsdeal der reibungsloseren Integration der BRD in das westliche Bündnis diente. Diese erfolgreiche gewaltfreie Kampagne ist bis heute wenig bekannt.
Der Kalte Krieg, die geplante Remilitarisierung Deutschlands und der Koreakrieg regten die Suche nach neuen Aktionsformen an. Anfang 1950 lehnten laut einer Umfrage z.B. 90 % der katholischen Männer Krieg und Wehrdienst grundsätzlich ab. Dennoch lagen in Deutschland Aktionen wie die der Transportarbeiter in Marseille ("Streik legt Kriegstransport lahm", FR März 1950, ausserhalb der Reichweite pazifistischer Gruppen. Die FR August 1950 berichtet über den Aufruf von Betriebsräten "Kein Waggon für den Krieg", der 'Kreis junger Friedensfreunde' Hannover rufe die Jugend der Welt auf, sich den Friedensbemühungen der indischen Regierung anzuschließen und sich nicht an Herstellung und Transport von Waffen zu beteiligen.
Vor allem Nikolaus Koch bemühte sich, in Deutschland eine gewaltlose Bewegung zu organisieren: "{In allen Lagern sind Einzelne auf dem Wege, aktiv gewaltlos zu werden" doch "Bisher hat sich der gewaltlose Wille in Deutschland planlos entwickelt ... Immer dringender verlangt unsere Arbeit nun nach einem zweck- und planmäßigen Zusammenwirken. Der sich mit allen seinen Kräften nüchtern entscheidende Einzelne, die gewaltlose kleine Gruppe, die gewaltlosen Ausbildungsstätten, die zweckmäßige Zusammenarbeit dieser Stätten fordern von uns aufmerksame und nützliche Antworten.}"
Ausbildungsstätten wie das "Internationale Freundschaftsheim" Bückeburg und die "Friedensakademie"in Bad Harzburg, wo Koch selbst arbeitete, "{bedeuten in ihrer Unscheinbarkeit viel, leiden aber an ihrer Abgelegenheit und Mittellosigkeit.}" (FR 7/1951).
Koch sah im Geiste bereits weitere Zentren in Hamburg, Frankfurt, Südwestdeutschland oder München entstehen. Tatsächlich folgte daraus vorest nur die Gründung von "Haus Bommern" in Witten, wo Koch bis zu seinem Tod 1991 arbeitete. {{(12)}}
Die erste Konferenz der "War Resisters' International" nach dem Krieg auf deutschem Boden fand vom 27.-31. Juli 1951 in der Braunschweiger Kant-Hochschule statt. "{Denn kein Land braucht heute die Botschaft der Gewaltlosigkeit und der Kriegsdienstverweigerung dringender als Deutschland}."
Vom 31.7.- 5.8. 1951 schloss sich ein internationales Grenztreffen der WRI und die Jahreskonferenz der IdK auf Burg Ludwigstein an der Werra an. {{(13) }}
In seinem Vortrag "Gewaltlosigkeit in Deutschland" forderte N. Koch dort zum gewaltlosen Kampf gegen die Militarisierung auf. Die IdK beschloss die Bildung gewaltloser Gruppen. Diese sollten "....aus Männern und Frauen bestehen, die mit Methoden und Grundsätzen der Gewaltlosigkeit vertraut sind und die auch unter schwersten Prüfungen gewaltlos bleiben können. Die hohen Anforderungen, die an die Mitgliedschaft solcher Gruppen gestellt werden, sind ein Beweis dafür, dass nicht jedes Mitglied der IdK ohne weiteres Mitglied auch einer gewaltlosen Gruppe sein kann, wenn auch die IdK als solche auf dem Boden der Gewaltlosigkeit steht.” (FR 9/51)
An der gewaltlosen Aktion am ’Eisernen Vorhang’ zum Ende des Treffens beteiligten sich fast alle ausländischen und deutschen Teilnehmer. "Der Zweck der Aktion war, ein Gespräch von unten in die Wege zu leiten" (FR 9/51). Das Gespräch sollte "im ostzonalen Grenzort Lindewerra" stattfinden, wofür es zunächst die Genehmigung des Ortskommandanten von Lindewerra sowie des hessischen Innnenministeriums gab. Das Bonner Ministerium für gesamtdeutsche Fragen verbot jedoch das Überschreiten der Grenze. Daraufhin kam es zum Gespräch über den Fluss hinweg, dem "sowohl die Volkspolizei der DDR als auch die Grenzpolizei der Bundesrepublik beiwohnten. "Den Polizeikommandanten sowie der Bevölkerung diesseits und jenseits der Werra wurde eine Erklärung überreicht, in der die Lösung des Deutschlandproblems ohne Gewalt gefordert wurde, Darin hieß es:
“{Wir sind der festen Uberzeugung, dass alles Spiel mit Gewaltpolitik innerhalb der deutschen Grenzen ein Verhängnis nicht nur für Deutschland, sondern darüber hinaus für Europa und die ganze Welt sein muß. Diesem Spiel wollen wir mit waffenlosen Mitteln begegnen, deren Wirksamkeit Gandhi im gewaltlosen Befreiungskampf Indiens bewiesen hat. Wenn auch die Verhältnisse in Deutschland anders gelagert sind als in Indien, so ist der Einsatz gewaltloser Mittel für das deutsche Volk noch der einzige Weg, der zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands führen kann .... Wir bitten alle gutgesinnten Kräfte in beiden Teilen Deutschlands - und in der ganzen Welt, zu helfen, daß die gewaltlosen Bestrebungen gegen den Krieg und jegliche Form der Gewaltherrschaft sowie gegen die Vorbereitungen und Ursachen davon immer kräftiger gefördert werden.
Jugendburg Ludwigstein, den 4. August 1951}”
Einen zweiten Versuch zum Gespräch in Lindewerra machte am folgenden Tag Mary Barr, eine frühere Mitarbeiterin Gandhis in Südafrika. Wieder gab es die Erlaubnis aus Hessen und das Verbot aus Bonn. Mary Barr teilte dem Bundesminister Kaiser in einem Telegramm mit, dass sie entschlossen sei, die Grenze mit oder ohne Genehmigung zu überschreiten:
"{Ich habe acht Jahre mit Gandhi gearbeitet und bin überzeugt, daß nur seine Methode der Gewaltlosigkeit der Welt Einigkeit und Gerechtigkeit bringen kann. Als ich nach Deutschland kam, hatte ich nicht die Absicht, bestehende Gesetze zu brechen. Die tragische Lage der Grenzbevölkerung veranlaßte mich jedoch, in der Art und Weise zu handeln, wie ich es von Gandhi gelernt habe .... Wenn mir bis Mittwoch, dem 8. August 9 Uhr keine Genehmigung erteilt wird, werde ich mich verpflichtet fühlen, die Grenze ohne Genehmigung zu überschreiten.}"
Die telegraphische Genehmigung traf erst am nächsten Tag aus Bonn ein. Die Verzögerung ermöglichte es der DDR zu behaupten, dass der Westen das Gespräch mit der Bevölkerung im Osten fürchte. Mit Autobussen schickte sie FDJ und SED-Mitglieder nach Lindewerra, während die eigentlich gemeinten Gesprächspartner noch auf dem Feld arbeiteten, als Mary Barr mit einer Übersetzerin in Lindewerra eintraf.
"{Dadurch wurde die Begegnung vollkommen zwecklos. Denn unsere Freunde wünschten ein Gespräch nicht mit Parteifunktionären, sondern mit der Bevölkerung.., um dadurch eine zwanglose Verbindung von Mensch zu Mensch anzubahnen. Dieser Versuch hat aber gezeigt, daß man trotz aller Verbote zum Ziele kommen kann, wenn man unerschütterlich bei seinem Vorhaben bleibt und bereit ist, jede sich aus der Aktion ergebende Konsequenz auf sich zu nehmen}.” (FR 9 /1951) (13a)
In einem Brief teilte Theodor Michaltscheff Bundesminister Kaiser mit, das Gespräch in Lindewerra sollte nur die erste Aktion dieser Art sein, die Delegierten der IdK hätten einstimmig beschlossen, "..{. eine Reihe gewaltloser Aktionen in die Wege zu leiten, um das deutsche Volk und die Weltöffentlichkeit auf die uns drohende Kriegsgefahr aufmerksam zumachen".., "dass wir bald andere, ähnliche gewaltlose Aktionen in verschiedenen Teilen Deutschlands durchführen werden, wobei wir jedesmal den zuständigen Stellen Zeit und Ort der jeweiligen Aktion bekanntmachen werden. Dadurch wollen wir den Beweis erbringen, dass uns nichts ferner liegt, als etwas Geheimes zu unternehmen. Im Gegenteil, wir legen größten Wert darauf, jede von uns zu unternehmende gewaltlose Aktion in aller Öffentlichkeit durchzuführen, um auch dem Schatten eines Verdachtes vorzubeugen...}"
Nikolaus Koch und Theodor Michaltscheff hatten Kontakt zu einem buddhistischen Kreis um Paul Debes und Helmut Hecker in Hamburg. Diese Gruppe war durch den Koreakrieg politisiert worden und gründete sich im Oktober 1950 als "Die Streitlosen" neu{{(14)}}. Sie organisierte monatlich an der Universität politische Vorträge und entfaltete mit einer Ortsgruppe in Oldenburg und Einzelmitgliedern in ganz Norddeutschland Aktivitätenz.B. gegen die Hetze der "Stoßtrupps gegen die bolschewistische Zersetzung". Sie arbeiteten mit anderen gewaltlosen Gruppen zusammen, etwa bei der Bückeburger Tagung Pfingsten 1952 mit W. Mensching, Th. Michaltscheff, N. Koch und Milton Mayer (USA).
Der Schwerpunkt der Arbeit war der Widerstand gegen die Remilitarisierung als Haupthindernis für die friedliche Wiedervereinigung. Am 28.11.1952 wurden auf dem Hamburger Rathausmarkt die Pariser Verträge öffentlich verbrannt, zehn Personen dabei verhaftet. In Briefen an den Bundestag und den amerikanischen Hochkommissar wurden weitere gewaltlose Aktionen angekündigt.
Die wichtigste Form der "Mobilisierung gewaltloser Selbsthilfe" wurde der "Verhandlungsgang für den Frieden", der vom 12. April 1953 von Hamburg über Bonn nach Ostberlin führte. Debes und Koch wollten den ganzen Weg laufen, andere fuhren mit dem Fahrrad oder schlossen sich für Teilstrecken an. Allabendlich versuchten sie mit Veranstaltungen gegen die massive Hetze ("kommunistische Tarnorganisation") von Polizei, Verfassungsschutz und Presse ihr Anliegen darzustellen. Nach nur begrenzt erfolgreichen Versuchen, in Bonn Gespräche zu führen, wollte die Gruppe am 25. Mai erneut die Zonengrenze an der Werra überschreiten, woran sie aber ebenso wie bei Versuchen am 11. Juni und am 7. Juli von der Grenzpolizei gehindert wurden. Erst als sie von der amerikanischen in die britische Zone auswichen, konnten sie die Grenze am 15. Juli in Niedersachsen überwinden. In Erfurt, Weimar, Leipzig und schließlich in Berlin wurde die Gruppe von offiziellen Stellen empfangen. Die 100 Tage dauernde Erfahrung fasste die Gruppe als “friedliches Stoßtruppunternehmen, ein kleiner Feldzug mitten in den kalten Krieg hinein,.. ein Lehrstück nicht nur für die Teilnehmer" zusammen.
Nach dem Verhandlungsgang wurde in Flugblättern zur Gründung von "Pflanzstätten des Friedensdienstes" oder dem "Bau einer zentralen Stätte zur Pflege der Gewaltlosigkeit und der Ausbildung darin" aufgerufen. Die Akademie in Hamburg kam nicht zustande, N. Koch war seit Frühjahr 1952 zusammen mit Agnes Rösler und Arnold Haumann dabei, in Witten das "Haus Bommern" aufzubauen. Koch hatte seine Pläne im letzten Kapitel von "Die moderne Revolution - Gedanken der gewaltfreien Selbsthilfe des deutschen Volkes", Tübingen, 1951 beschrieben.
{{Anmerkungen}}
{{(1)}} Johann Orthmann: "Sind Kriege notwendig." Lebenserinnerungen eines Pazifisten und Schulmannes. Kiel 1995.
{{(2)}} Vgl. Christl Wickert: "Helene Stöcker 1869 - 1943. Frauenrechtlerin, Sexualreformerin und Pazifistin. Eine Biographie". Bonn 1991.
Rolf von Bockel: "Philosophin einer "neuen Ethik" . Helene Stöcker”. Hamburg 1991
F. K. Scheer: "Die Deutsche Friedensgesellschaft 1892-1933.Organisation, Ideologie, politische Ziele". Frankfurt, 1983 (2.Auflage);
Stefan Appelius: "Pazifismus in Westdeutschland. Die Deutsche Friedensgesellschaft 1945-1968". Aachen, 1991. (Zwei Bände)
{{(3) }} Die Bruderhof-Siedler mußten 1933 Deutschland verlassen und gingen über Liechtenstein nach England. Bei Ausbruch des Krieges wanderten 334 von ihnen nach Paraguay aus. Andere gründeten 1944 den Wheathill Brüderhof in der Grafschaft Shropshire.
Vgl. Ulrich Linse: “Zurück o Mensch. zur Erde Mutter. Landkommunen in Deutschland 1890 -1933”, München 1983.
{{(4) }} vgl.: Hans-Christian Brandenburg / Rudolf Daur: "Die Brücke zu Köngen. Fünfzig Jahre Bund der Köngener 1919-1969". Stuttgart (o.J).
In Jörg Zinks Erinnerungen :"Sieh nach den Sternen, gibt acht auf die Gassen”, Stuttgart 1992 wird die Mitarbeit seiner Eltern im Habertshof und sein Schwiegervater Rudi Daur erwähnt.
{{(5)}} siehe u.a.: Dieter Riesenberger: "Die katholische Friedensbewegung in der Weimarer Republik". Düsseldorf 1976.
{{(6) }} Hermann Hoffmann: "Im Dienste des Friedens, Erinnerungen eines katholischen Europäers". Stuttgart und Aalen 1970.
{{(7)}} Wilhelm Heydorn:"Nur Mensch sein. Lebenserinnerungen 1873–1958", Dölling & Galitz 2002, Rainer Hering: Wilhelm Heydorn. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 16, Bautz, Herzberg 1999
{{(8)}} Im ersten Rundbrief "Mitteilungen der Hamburger Gruppe der War Resisters´ International", März 1947 schreibt Th. Michaltscheff auf Seite 3/4 eine denkwürdige Anmerkung zur Wahl des Organisationsnamens:
" {{ {Die Bezeichnung Internationale der Kriegsdienstgegner ist irreführend. Wir verweigern ja nicht nur den Kriegs- sondern auch den Militärdienst. Darüber hinaus arbeiten wir für die Beseitigung aller Kriegsursachen, indem wir nicht allein die Herstellung von Munition und Waffen und die Zeichnung von Kriegsanleihen ablehnen, sondern wir wollen auch unseren Mitmenschen helfen, religiösen, rassischen und nationalen Fanatismus zu überwinden; nicht zuletzt wollen wir eine Wirtschaftsordnung herbeiführen,die jeden Anlass für einen Krieg vorweg nimmt und den wirklichen und dauerhaften Frieden garantiert.
Auch entspricht das Wort Kriegsdienstgegner“ keineswegs der ursprünglichen englischen Bezeichnung „War Resister" ( französisch: Résistant à la Guerre, Esperanto: Militrezistanto usw. was eher mit Kriegsgegner als mit Kriegsdienstgegner wiederzugeben wäre,
Aber einerseits ist das Wort Kriegsgegner von der Friedensgesellschaft beschlagnahmt, andererseits fehlt dem Wort "Gegner" die aktive Haltung dem Kriege gegenüber, die so kennzeichnend für das Wort "Resister" ist. Denn Resister ist einer, der Widerstand leistet, der sich gegen etwas widersetzt, während der Gegner sich auch passiv verhalten könnte.} }}.."
{{(9)}} Einige Überschriften:'Bapu Gandhi', 'Gandhi an die Arbeiter' (der Schweiz), 1922), 'Kalkuttas Abschied von Gandhi', 'Gandhi: Die Lehre vom Schwert', FB 1/49; 'Gewaltlosigkeit in Indien', FB 3/49; 'Gandhi lebt in Millionen Herzen', FB 4/49, 'Wird Indien Gandhis Weg gehen?', FB 6/49; 'Satyagraha und Krieg', FR 1/1950; 'Die Inder, unser Vorbild´, FB 3/50 usw.
{{(10) }} 'Norwegens Quäker lehnen Verteidigungssteuer ab', FB 2/49 ; USA-Quäker für öffentlichen Ungehorsam", FB 4/49; '41 USA-Pazifisten verweigern Steuerzahlung', FB 2/49; Heinz Kraschutzki: 'Gandhi und der Berliner Eisenbahnkrieg', FB 7/49; ders. in FR 3/1950: 'Gandhis Kampfesweise in Berlin' (Erinnerung an den "passiven Widerstand gegen den Kapp-Putsch im März 1920)
{{(11) }} René Leudesdorff: "Wir befreiten Helgoland. Die friedliche Invasion 1950/51", Husum, 1987
Thorsten Schmidt: 'Ziviler Ungehorsam rettete Helgoland', Graswurzelrevolution Nr. 154, März 1991
Th. Schmidt und Prof. Kurt Denzer, Universität Kiel, drehten 1993 den Dokumentarfilm: "Wer befreite Helgoland?”. Die Rolle der Kommunisten wird kaum erwähnt, viele Pazifisten hatten damals wegen der Teilnahme der von der DDR gut ausgerüsteten FDJler Probleme, sich mit dem Zivilen Ungehorsam zu solidarisieren. (vgl. FR 4/1951). Die aggressiv antikommunistische Propaganda z.B. des "Aktionskomitees gegen die fünfte Kolonne" richtete sich auch gegen die Friedensbewegung. Eine Darstellung aus kommunistischer Sicht: Herbert Szezikowski: "Friedenskampf um Helgoland", Frankfurt, 1985
(12) Die Reaktionen auf Kochs Aufforderungen an die Bewegung zu vermehrten und koordinierten Bemühungen zur "Förderung gewaltloser Aktivgruppen zum Kampf gegen die Militarisierung" erinnern leidvoll an viele ähnliche Aufrufe in den folgenden Jahrzehnten und ihre meist geringen Folgen.
{{(13)}} vgl. Wolfgang Hertle: [ Das internationale Grenztreffen der War Resisters´ International 1951 auf Burg Ludwigstein->http://castor.divergences.be/spip.php?article624] und weitere Versuche, Grenzen zu überwinden
{{(13a)}} Jahrzehntelang bot der Blick vom Burgberg Richtung Osten den Besuchern des Ludwigstein keine herrliche Aussicht, sondern führte ihnen die Trennung Deutschlands vor Augen. Denn direkt am Fuße des Burgbergs zog sich entlang der Werra der Grenzstreifen zwischen Bundesrepublik und DDR: Man konnte den Nachbarn sehen, ihn jedoch nicht erreichen. Unter diesem Eindruck entstand im August 1951, zu Zeiten des Kalten Krieges, ein Eintrag von Mary Barr – Mitarbeiterin der indischen Pazifismus- Ikone Mahatma Gandhi – im Gästebuch der Burg. „Truth, non-violence + humour can bring unity + happiness to Germany and the World / Wahrheit, Gewaltlosigkeit und Humor werden Deutschland und der Welt Einigkeit und Freude bringen“, schrieb sie während des Grenztreffens der „War Resisters
International“ (Internationale Kriegsdienstgegner). Ihren Tagungsort beschrieb der Mit-Organisator Theodor Michaltscheff mit: „Die Jugendburg Ludwigstein ist ein traditioneller Versammlungsort pazifistischer und fortschrittlicher Bewegungen.“ Das Gästebuch ist im Archiv der deutschen Jugendbewegung zu finden (Signatur: CH 1 Nr. 95)
(14) 1952 in "Gesellschaft für gewaltfreie Zusammenarbeit" umbenannt, in der Praxis wurde aber der Name "Die Streitlosen" oder "streitlose Aktivisten" beibehalten. Von November 1951 bis Ende 1954 erschienen vierzehntägig die hektographierten "Streitlosen Blätter". Als die Gruppe ein Grundstück nahe des Hauptbahnhofs für den Bau einer Friedensakademie gestiftet bekam, zog Koch im September 1952 nach Hamburg. Die "Hamburger Hefte" waren als ambitioniertes Schulungsprogramm in Form einer Broschürenreihe geplant, erschienen sind davon nur zwei Ausgaben.
Siehe u.a. auch
Wolfgang Hertle:
Die Geschichte der gewaltfreien Bewegungen in Deutschland muss noch geschrieben werden und
Eine Einladung, an der Erforschung der Geschichte gewaltfreier Bewegungen in Deutschland mitzuwirken
(X) Anmerkung
Die Historische Friedensforschung hat zahlreiche Untersuchungen über die größeren pazifistischen Organisationen in der Weimarer Republik sowie über deren führende Persönlichkeiten veröffentlicht, kaum jedoch über die gewaltfreien Ansätze, seien sie anarchistisch oder religiös begründet gewesen.
Siehe dazu Franz Kobler (Hg.):"Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus". Zürich und Leipzig, 1928
Fritz Diettrich (Hg.): "Die Gandhi-Revolution". Dresden 1930
Ulrich Linse: "Ökopax und Anarchie". München 1986.
Anstelle einer ausführlichen Bibliographie seien hier nur einige Überblickswerke genannt:
Karl Holl / Wolfram Wette (Hg.) "Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Östterreich und in der Schweiz" . Düsseldorf, 1983.
R. Lütgemeier-Davin: "Pazifismus zwischen Kooperation und Konfrontation. Das Deutsche Friedenskartell in der Weimarer Republik" Köln, 1982
Wolfgang Benz (Hg.): "Pazifismus in Deutschland .Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939". Frankfurt 1988
Leicht verändert nach einem Text in Archiv Aktiv Aktuell Nr. 2, Juli 1996
Der erste Teil des Artikels findet sich unter
Entwicklung der gewaltfreien Bewegung der Nachkriegszeit- Eine Skizze ,Teil I