François Vaillant, Alain Refalo
Vor allem keine Waffenlieferung an die Ukraine!
Unterstützung für die ukrainische und russische Zivilgesellschaft
On-line gesetzt am 1. März 2022
zuletzt geändert am 29. November 2023

So sehr die wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen gegen Russland zu begrüßen sind, wie auch die Entscheidungen internationaler Sportorganisationen, Russland zu boykottieren, so sehr sind die Zusagen von Waffenlieferungen an die Ukraine zu missbilligen. Unsere Solidarität muss sich in erster Linie auf die ukrainische und russische Zivilgesellschaft richten, die in der Lage ist, ohne Waffen viel effektiveren Widerstand zu leisten.

Alle Waffenlieferungen an die Ukraine sind ungeeignet, nutzlos und können katastrophal sein, indem sie Wladimir Putin als Vorwand dienen, um die militärische Besetzung der Ukraine und die Unterdrückung ihrer bewaffneten oder unbewaffneten Bürger noch weiter zu legitimieren. "Sie sehen doch, dass die westlichen Länder uns angreifen, da sie Waffen schicken, um uns zu bekämpfen." Natürlich fallen wir nicht auf die nationalistischen Vorwände herein, die der Autokrat in Moskau vorschiebt. Das ist sicherlich nicht der Grund, warum er beschlossen hat, in die Ukraine einzumarschieren, und vor hat , dort zu bleiben. Da es seit langem keine europäischen militärischen Drohungen gegen Russland mehr gibt, handelt es sich um ein Expansions- und Annexionsprojekt, das der neue Kaiser von Russland durchführen will.

Am 26. und 27. Februar 2022 wurden folgende europäische Waffenlieferungen an die Ukraine zugesagt: Berlin für eintausend Panzerfäuste und fünfhundert Boden-Luft-Raketen - die Niederlande für zweihundert Stinger-Flugabwehrraketen - die Tschechische Republik für Waffen im Wert von 7,6 Millionen Euro - Belgien für zweitausend Maschinengewehre und 3 800 Tonnen Heizöl. Frankreich gab seinerseits nach einer Sitzung des Verteidigungsrates bekannt, dass es "die zusätzliche Lieferung von Verteidigungsgütern an die ukrainischen Behörden beschlossen" habe, ohne weitere Einzelheiten zu nennen. Die EU kündigte ihrerseits an, Waffen im Wert von insgesamt 450 Millionen Euro kaufen und an die Ukraine liefern zu wollen.

In keiner Mitteilung dieser westlichen Institutionen wird jedoch angegeben, wann und wie diese Waffen in die Ukraine gebracht werden sollen. Ihre Flughäfen sind alle außer Betrieb, die Häfen von Mariupol und Odessa sind bereits in den Händen der russischen Armee. Es bleibt nur noch der Landweg. Wer kann schon glauben, dass die russische Luftwaffe nicht kommen würde, um einen solchen Zug- oder LKW-Konvoi, der in die Ukraine einfährt, zu bombardieren? Was für ein Segen wäre es für die Kreml-Propaganda, wenn sie Videos verbreiten könnte, die zeigen, dass das "große Russland" angegriffen wird?
Wir sind davon überzeugt, dass wir dem Krieg nicht noch mehr Krieg hinzufügen sollten. Der Export und die Lieferung von Waffen an die Ukraine würde, abgesehen von der Rhetorik über die Unterstützung der belagerten Bevölkerung, die humanitäre Katastrophe, die bereits im Gange ist, nur noch verschlimmern. In diesem Zusammenhang scheinen uns die Worte von Dominique de Villepin, dem ehemaligen Premierminister, mit dem Siegel des gesunden Menschenverstands und der Weisheit geprägt zu sein. Er lehnt die Idee einer militärischen Intervention von aussen auf dem Boden der Ukraine ab und meint, dass "wir andere Mittel des Widerstands haben". Diese Mittel sind die wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen, die Russland und seinen Oligarchen einen schweren Schlag versetzen werden.

Ist das Gerede über diese sehr hypothetischen Waffenlieferungen nicht in erster Linie dazu gedacht, die militärische Ideologie, die europäische Politiker zu Hause mit der Komplizenschaft der militärisch-industriellen Lobbys pflegen, zur Geltung zu bringen? Das Dilemma besteht nicht zwischen bewaffneter Verteidigung und Resignation, sondern zwischen bewaffnetem Widerstand und gewaltlosem zivilem Widerstand.

Es ist ein Skandal, dass europäische Politiker, die immer willig sind, die Produkte ihrer Rüstungsfabriken zu verkaufen, dies nicht verstanden und den Ukrainern nicht erklärt haben, dass die Wahrung ihrer Demokratie durch einen Widerstand durchgesetzt werden könnte, der sich am gewaltlosen Kampf orientiert. Mit den Mitteln der Nicht-Zusammenarbeit mit den Besatzern, mit zivilem Ungehorsam, der wirtschaftlichen Blockade des Landes, der vorläufigen Festnahme russischer Soldaten durch die Bevölkerung, der Sicherung der demokratischen Institutionen der Ukraine durch eine mögliche im Untergrund eingerichtete legitime Regierung, falls die derzeitigen vom Kreml ausser Kraft gesetzt werden sollten, etc.

Um Putins Macht zu schwächen, sollte man ausserdem auf die Reaktionen und Mobilisierungen der russischen Zivilgesellschaft achten, die sicherlich einen der Schlüssel zu diesem Konflikt in der Hand hält. Putins Macht beruht auf dem Gehorsam und dem Schweigen der Bevölkerung, die gezwungen ist, die autoritären Entscheidungen des Kremlherrn zu akzeptieren. Mutig wacht diese Zivilgesellschaft auf, beginnt sich zu äussern und auf der Straße zu demonstrieren, trotz der Gefahren der Repression / unterdrückt zu werden. Unsere Rolle ist es, diese russische Zivilgesellschaft, ihre Netzwerke, ihre Verbände und ihre Führer zu unterstützen, die als einzige in der Lage sind, demokratische Breschen in die Säulen des diktatorischen Regimes ihres Landes zu schlagen, indem sie sich weigern, Putins Lügen zu unterstützen.

"Seid entschlossen, nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei. Ich will nicht, dass ihr ihn stößt oder erschüttert, sondern nur, dass ihr ihn nicht mehr stützt, und ihr werdet sehen, wie er, wie ein großer Koloss, dem man seine Basis geraubt hat, durch sein eigenes Gewicht von unten schmilzt und zerbricht."
(Etienne de La Boétie, Von der freiwilligen Knechtschaft, 1576)

François Vaillant, Redakeur der Zeitschrift Alternatives Non-Violentes
Alain Refalo, Mitglied der Bewegung für eine gewaltfreie Alternative (MAN)


Dazu aktuell die Meldung:
https://m.tagesspiegel.de/politik/geht-nach-hause-unbewaffnete-ukrainer-stellen-sich-russischen-panzern-entgegen/28113950.html?fbclid=IwAR0sLOzrV_EXvgidZl_zkmrl9tj99P4LGci-5nPntueiLIU3cVIburaZKP8