Milan Rai, Redakteur von Peace news, London
Wir brauchen gewaltfreie Konflikte, nicht Nettigkeit
Die wirksamsten Aktionen verwenden Druck und appellieren an das Gewissen
On-line gesetzt am 18. Februar 2022

Neulich rief jemand an und fragte, was Peace news (PN) über "Friedenserziehung" denkt. Ich sagte, dass es da eine Reihe von Dingen gibt, vom "Lasst uns einfach nett zueinander sein"-Gerede, das mehr schadet als nützt, über aktivistische Geschichte und Analyse bis hin zum Training, das Menschen hilft, Fähigkeiten zu erwerben und in ihrer Arbeit für Veränderung stärker zu werden. (Wir mögen den von George Lakey und anderen entwickelten Ansatz der "direkten Bildung" für die Ausbildung von Aktivistinnen).

Beim Frieden geht es nicht darum, "nett zu den Menschen zu sein". Frieden muss auf Gerechtigkeit und Gleichheit aufbauen. Das bedeutet, sich Unterdrückung entgegen zu stellen, sie zu untergraben und zu stürzen.

Bei den Boykottaktionen, den sit-ins und den selbstbewussten Märschen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ging es nicht darum, dass Afroamerikaner "nett" zu den Weißen waren.

Wenn wir das "nett sein" über das "Erreichen von Gerechtigkeit" stellen, laufen wir Gefahr, zu Kollaborateuren mit zerstörerischen und ausbeuterischen Systemen zu werden.

Gleichzeitig ist es für Aktivisten - in westlichen Ländern, in dieser Zeit - in der Regel möglich, entschlossen zu sein und die Entschlossenheit mit Respekt vor denjenigen zu verbinden, die dem Fortschritt, wie wir ihn sehen, im Wege stehen.

Carls Umklammerung

Ich denke in diesem Zusammenhang an Carl Kabat, einen der acht radikalen Katholiken, die am 9. September 1980 in das Werk von General Electric in King of Prussia, Pennsylvania, USA, gingen. Sie führten die erste "Ploughshares" (Pflugschar)-Aktion durch, indem sie mit Hämmern auf die metallene Bombenhüllen einschlugen, die für US-Atomsprengköpfe hergestellt werden.

Carl (damals 46) betrat das Gebäude Neun zuerst in kirchlicher Kleidung zusammen mit Schwester Anne Montgomery (53), um den Wachmann abzulenken und ihn davon abzuhalten, die Aktion zu stören.

Während Carl und Anne versuchten, ihn davon zu überzeugen, dass sie nicht gewalttätig seien, versuchte Robert Cox (54), telefonisch Hilfe zu holen, während die anderen sechs Entwaffner das Gebäude betraten. Anne drückte auf den Telefonhörer und unterbrach den Anruf. Carl umklammerte den Wachmann mit seinen Armenund ließ ihn erst wieder los, als die anderen zu den Bombenhüllen vorgedrungen waren und auf sie einhämmerten.

Vernünftige Menschen könnten darüber streiten, wie moralisch gerechtfertigt und wie strategisch sinnvoll Ploughshares Aktionen sind.

Ich bin sicher, dass viele Juristen Carls Umarmung als Angriff (und unrechtmäßige Freiheitsberaubung) ansehen würden, aber ich denke, sie würden zustimmen, dass es sich nicht um eine schädigende oder verletzende Gewaltanwendung handelt.

Ich denke, es ist fair, Carls Umklammerung als Zwangsmaßnahme, aber nicht als gewalttätig zu betrachten, als Teil einer militanten, gewaltfreien Aktion mit physischer Kraft. Er hat Robert Cox gezwungen, an der Stelle zu bleiben, aber er hat ihm keinen Schaden zugefügt.

Die beiden Arten von Zwang

Langjährige Leserinnen und Leser von PN werden wissen, dass eine unserer Leitfiguren Barbara Deming ist, die US-amerikanische revolutionäre Pazifistin und lesbische Feministin. Sie schrieb 1968 in ihrem wunderbaren Essay "On Revolution and Equilibrium" (Über Revolution und Gleichgewicht):

„Die wirksamste Aktion greift sowohl auf die Macht zurück als auch auf das Gewissen. Gewaltlfreiheit muss andere nicht anflehen, "nett" zu sein. Sie kann sie faktisch dazu zwingen, ihr Gewissen zu befragen - oder so zu tun, als ob sie es hätten. Sie bittet auch nicht die Mächtigen, etwas an einer Situation zu ändern. Sie kann die Behörden mit einer neuen Tatsache konfrontieren und sagen: "Akzeptiert diese neue Situation, die wir geschaffen haben."“

Sie fuhr fort (wir haben die sexistische Sprache, die selbst Feministinnen 1968 manchmal benutzten, umgedreht):

"Wir können mehr Druck auf den Gegner ausüben, für den wir menschliche Anteilnahme zeigen. Gerade die Sorge um ihre Person in Verbindung mit einer hartnäckigen Einmischung in ihre Handlungen kann uns ein ganz besonderes Maß an Kontrolle geben (gerade dadurch, dass wir, wenn man so will, sowohl mit Liebe handeln - in dem Sinne, dass wir ihre Menschenrechte respektieren - als auch mit Wahrhaftigkeit, in dem Sinne, dass wir unsere Einwände gegen ihre Verletzung unserer Rechte vollständig ausleben). Wir üben auf sie zwei Arten von Druck aus - den Druck unserer Empörung ihr gegenüber und den Druck unseres Respekts für ihr Leben - und es geschieht, dass diese beiden Drücke in Kombination einzigartig wirksam sind.“

Dies ist ein Aufruf, sowohl gewaltfrei als auch kämpferisch zu sein, bereit zu sein, unsere Gegner zu zwingen, aber auch zu schätzen. Barbara Deming fuhr fort:

„Ja, die Herausforderung für diejenigen, die an den gewaltfreien Kampf glauben, besteht darin, zu lernen, aggressiv genug zu sein. Gewaltlosigkeit ist in den Köpfen der Menschen zu lange mit dem Begriff der Passivität verbunden gewesen. Ich würde hier ein anderes Wort einsetzen - und "Aggression" in "Selbstbehauptung" umbenennen.

Nicht bloß Harmonie

Was bedeutet das alles für die Aktivisten im Vereinigten Königreich, die heute mit einer destabilisierten Regierung in einem ungeliebten Parlament konfrontiert sind, während Terroranschläge Islamophobie und Unterdrückung schüren und der Klimawandel das Leben von Millionen Menschen auf der ganzen Welt verschlechtert, während die Klassenspaltung immer schmerzhafter wird und der Staat die nächste Stufe des nuklearen Wettrüstens vorantreibt, während die Welt Atomwaffen verbietet?

Es gibt große Probleme und große Möglichkeiten. Eine schwache Regierung schafft Möglichkeiten für die Bürger, mehr demokratisches Mitspracherecht bei der Politikgestaltung zu haben. Der zunehmende antimuslimische Rassismus fordert nicht-muslimische Gruppen heraus, sich stärker einzubringen und ihren Antirassismus zu vertiefen. Die wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit macht es noch dringender für Graswurzelbewegungen, die Kommunikation zu verbessern und quer zu den Klassengrenzen reale klassenüberwindende Bündnisse aufzubauen.

In ihrem gesamten Werkt ruft Barbara Deming diejenigen von uns, die sich der Gewaltfreiheit verpflichtet fühlen, dazu auf, militanter, störender und aggressiver zu werden - und dabei trotzdem das Gewissen unserer Gegner anzusprechen und ihre Menschlichkeit zu respektieren.

Wir können uns hier George Lakeys Unterscheidung zwischen dem, was er "Mittelklasse-Pazifismus" und dem was er "revolutionäre Gewaltfreiheit" nennt, anschließen:

„Der Mittelklasse-Pazifismus hat ein sehr starkes Interesse an der gemeinsamen Basis, an Versöhnung. Zum Beispiel der Versöhnungsbund, das ist schon im Titel enthalten. "Lasst uns einen Weg finden, um zusammen zu kommen", das ist ein sehr wichtiges Anliegen. Das ist ein enormer Wert in der Mittelschicht, Harmonie und Gemeinsamkeit.

Das Problem bei diesem Ansatz ist : "Nur Harmonie" ist eigentlich Wahnsinn. "Nur Harmonie" ist der Tod. Es muss auch Konflikte geben. Die gewaltfreie revolutionäre Tradition ist also eine, in der der Schwerpunkt nicht auf Harmonie, sondern auf Konflikt liegt. Die Polarisierung ist das Fleisch und Getränk - oder für Veganer der Tofu - des Lebens. Wir brauchen die Polarisierung.“

Original veröffentlicht Januar 2018