Von jeher gab es in der pazifistischen und gewaltlosen Bewegung neben der antimilitaristischen eine Strömung, die sich auch darauf konzentrierte, eine neue Gesellschaft aufzubauen, in der Gerechtigkeit und Liebe bestimmende Elemente sind und dadurch eine Welt ohne Krieg herbeiführen. In den vergangenen Jahren ist diese Strömung stärker geworden - etwa unter dem Einfluß Gandhis, Kings und durch die Auswirkungen des Vietnamkrieges und der modernen Technologie.
Eines der interessantesten Experimente auf diesem Gebiet, das auch organisatorisch verhältnismäßig feste und verbindliche Formen entwickelt hat, ist die Movement for a New Society (MNS) ( Bewegung für eine neue Gesellschaft) in den USA. Die MNS ist aus A Quaker Action Group ( Quäker Aktionsgruppe) hervorgegangen, die Mitte der sechziger Jahre gegründet wurde, um Widerstand gegen den Vietnamkrieg zu organisieren und humanitäre Hilfe nach Vietnam, vor allem Nord-Vietnam zu bringen.
Je mehr diese Gruppe sich mit dem Krieg beschäftigte, desto mehr kam sie zu der Erkenntnis, daß der Krieg keine Einzelerscheinung ist, etwa weil das Militär zu viel Macht hat oder die Wirtschaftsbosse, sondern weil unsere gesamte Gesellschaft nicht in Ordnung ist, weil sie insgesamt krank ist. Der Vergleich mit einer Krankheit ist absichtlich. Sie haben z.B. eine Schrift herausgebracht: Revolution: A Quaker Prescription for a Sick Society (Revolution: Ein Quäker Rezept für eine kranke Gesellschaft), in dem sie eine Analyse unserer Gesellschaft entwickeln und neue Zielvorstellungen.
Die Umwandlung von AQUAG in MNS war ein folgerichtiger Schritt in dieser Richtung. Ihren Anfang nahm die MNS in Philadelphia und dehnte sich von dort aus. Über den ganzen Kontinent aus. Heute besteht sie aus etwa fünfzehn Gruppen und weitere stehen in enger Beziehung zu ihr.. Die stärkste Gruppe besteht in Philadelphia. wo sie ein Life Center (Lebenszentrum) gebildet haben, das aus dreizehn Hausgemeinschaften mit etwa hundert Leuten aller Lebensalter besteht.
Das Life Center befindet sich in West-Philadelphia, einem Stadtteil mit starken sozialen Problemen, was sich z.B. in der höchsten Kriminalitätsrate Philadelphia ausdrückt.
Raubüberfälle waren dort an der Tagesordnung und niemand wagte sich mehr nach Dunkelheit auf die Straße. Die Angst wuchs und um sich zu sichern bauten die Bewohner zusätzliche Schlösser und Alarmanlagen ein, kauften Wachhunde, zogen Stacheldraht um ihre Häuser, kauften Waffen. Sie zogen in andere Stadtteile und Häuser fingen an leer zu sein. Die defensive Reaktion der Bewohner trug jedoch dazu bei, die Unsicherheit, die Angst und die Kriminalität noch zu erhöhen. Der Sinn f ür Gemeinschaft und Zusammenarbeit wurde in diesem Stadtteil völlig untergraben. In dieser Situation setzten die Leute vom Life Center mit ihrer gesellschaftlichen Arbeit an. Bill Moyer beschrieb das in Fellowship (Zeitschrift des US- Versöhnungbundes) vom April 1974:
"Eines Jahres zu Weihnachten ging eine unserer Hausgemeinschaften in die Nachbarschaft um Weihnachtslieder zu singen. Als sie nach Hause kamen, fanden sie, dass eingebrochen war und die Weihnachtsgeschenke, die schon eingepackt waren, waren mit dem Fernseher und anderen Sachen weg. Wir hatten sowieso nicht viel, aber das, was wir hatten - das war sicher - hatte jetzt jemand anders. Ross ging in der Nachbarschaft umher und sprach mit den Leuten und forderte Lösungen.
Jeder wollte mehr Polizei und Überwachung. Ross dagegen begann eine systematische Kampagne, um eine Gemeinschaft des Vertrauens in West-Philadelphia zu entwickeln. Die Nachbarschaftsvereinigungen wuchsen. Arbeitstreffen über gewaltloses Verhalten gegenüber Gewalt auf der Straße wurden abgehalten. Die Menschen lernten zum ersten Mal seit Jahren ihre Nachbarn kennen. Was sich daraus entwickelte, war des Bewusstsein, dass Gemeinschaftsleben und die Vorteile einer einfachen Lebensweise dazu beitragen, eine Umwelt zu schaffen, in der andere frei sein können. (1)
Wir lernen, dass Leute, die mit der Frage der Sicherheit auf den Straßen fertig werden, auch an größere Fragen herangehen. Dieselben Leute, die vor zwei Jahren Angst hatten, in West-Philadelphia auf die Straße zu gehen, beteiligen sich jetzt an einer örtlichen Kampagne gegen die B -1 Bomber. Die Leute machen sich Sorgen darüber, dass 9 1/2 Mill. Dollar allein aus ihrer Nachbarschaft mithelfen, dieses neue Waffensystem zu finanzieren".
Analyse
Die Arbeit der MNS ist ein Abgehen von den "one issue campaigns" (Kampagnen, die sich nur mit einem Problem befassen) der sechziger Jahre. Sie sagen dass die meisten Menschen die heute für Veränderungen arbeiten, kaum davon überzeugt zu werden brauchen, dass der Weg der stückweisen Reformen nicht angemessen ist, sondern dass die Beziehungen zwischen den Problemen in der Gesellschaft gründlich verstanden werden müssen. In ihrer Arbeit legen sie grol3en Wert darauf, dass zu diesem Zweck eine umfassende Analyse erarbeitet wird, an der alle teilhaben. Die gemeinsame Erarbeitung einer Analyse, aber auch von Zielvorstellungen und Strategien sind eine der wesentlichen Merkmale für die Arbeitsweise der MNS. Die Inhalte dieser drei Punkte sind in George Lakey´s "Entwurf für ein Manifest für gewaltlose Revolution" (1), den viele Leser bereits kennen. Deshalb gebe ich hier nur die wesentlichen Punkte wieder.
"Wenigstens sechs alles übergreifende Kräfte gestalten diese Welt mit einer Macht, die bis auf die Ebene der Nachbarschaften zu spüren ist: die ökologische Krise, Konzernkapitalismus, Etatismus, Rassismus und Sexismus. Sie führen Desintegration oder plötzliche Zerstörung dieser Gesellschaft in wenigen Jahrzehnten herbei. Ob eine neue Gesellschaft entstehen kann, hängt von unserer Fähigkeit ab, uns neue Institutionen vorzustellen und aufs Leben gerichtete Strategien zu entwickeln, um sie aufzubauen."
Zielvorstellung
Hier einige Zielvorstellungen:
Kein starres Utopia - In Harmonie mit der Erde leben - Wirtschaftsunternehmen sollen in gesellschaftlichem Besitz sein, dezentralisiert und demokratisch kontrolliert. Zweck der Produktion soll gesellschaftlicher Nutzen und nicht privater Gewinn sein. Gleichmäßigere Verteilung der Einkommen, grundlegende Bedürfnisse sollen frei sein oder nur wenig kosten. Die Politik soll sich auf eine Gemeinschaft von Bürgern gründen, die sich von Angesicht zu Angesicht kennen und die sich aufwärts bis zur Weltgesellschaft bin erstreckt. Transnationale Institutionen werden Funktionen haben, die Probleme angehen, die praktisch die ganze Menschheit angehen. Nachdruck wird dabei immer auf Dezentralisierung liegen, um demokratische Bedingungen zu ermöglichen. Nationalstaaten, wie wir sie kennen, werden aufhören zu bestehen. - Ursachen für organisierte und Massengewalt werden geringer sein. Wenn sie auftreten, werden sie mit Mitteln des gewaltlosen Kampfes wie z.B. Nichtzusammenarbeit und unbewaffnete körperliche Intervention gelöst.
Strategie
Die Leute von der MNS sind der Meinung, dass Gerechtigkeit und Freiheit nicht ohne Kampf erreicht werden können: "Die Mächtigen haben nie etwas hergegeben, ohne dass das von ihnen gefordert worden ist. Repressive Maßnahmen können nur durch Kampf beseitigt oder verhindert werden. Danilo Dolci sagte einmal, er glaube nicht an Gewaltlosigkeit, sondern an gewaltlose Aktion, an gewaltlose Revolution!“ Kampf ist also ein wesentliches Element ihrer Strategie der Veränderung.
Den strategischen Ablauf von Kampagnen stellen sie sich in verschiedenen Stufen vor (wobei wohl überlegte Kampagnen immer Konflikte erzeugen):
1) Das Ziel auswählen, das mit der Analyse übereinstimmt. 2) Bildung und Erziehung. 3) Organisieren k) Verhandeln 5) Konfrontieren, wenn das Ziel noch nicht erreicht sein sollte.
Training
Eine Strategie des Kampfes erfordert gründliche Vorbereitung. Training für gewaltlose gesellschaftliche Veränderung wird in diesem Zusammenhang als ein Lernprozess angesehen mit dem Ziel, die menschliche Befreiung zu ermöglichen und um grundlegende und machtvolle Veränderungen herbeizuführen. Training für Gewaltlosigkeit kann auf verschiedene Dinge ausgerichtet sein>:
1) Vorbereitung für direkte Aktionen
2) Aufbau einer dauerhaften Bewegung
3) Erforschung von Alternativen zur Gewalt im täglichen Leben
4) Erweiterung der Kenntnis über uns selbst und die Art und Weise, in der wir miteinander verkehren
5) Beschäftigung mit gewaltlosen Kämpfen in der Geschichte und gewaltloser Theorie
6) Gemeinsames Erarbeiten besonderer Fähigkeiten.
Alternative Institutionen
Gewaltlose Revolution, sagen die Leute in der MNS, ist ein bedeutungsloses Konzept, solange die gegenwärtigen Institutionen solch starke Macht über unser Leben haben. Die Mehrzahl von uns unterstützen das gegenwärtige System durch ihre Arbeit und ihren Konsum. Alternative Institutionen weisen einen Weg, um diese Macht zu brechen und wenn sie gut sind, können sie Modelle sein für eine neue Gesellschaft. In den vergangenen Jahren sind eine große Zahl von alternativen Institutionen entstanden. Im Life Center gibt es zwei: eine Nahrungsmittelkooperative und ein Druckereikollektiv.
"Damit die Arbeit menschlicher und befriedigender ist, müssen Alternative Institutionen ernsthaft mit organisatorischen Formen experimentieren. Um Hierarchien und finanzielle Kontrolle von aussen zu vermeiden, dürfen nur die an Entscheidungen teilnehmen, die in ihnen arbeiten. Um politische Bedeutung zu erlangen, müssen Alternative Institutionen eine Analyse der bestehenden Institutionen erstellen und ein Programm, wie ihre Existenz bedroht werden kann. Leute in Alternativen Institutionen müssen in einer Bewegung für revolutionäre Veränderung arbeiten. Z.B. stellte die ’Ploughshare Cooperative Restaurant and Bread Company´(Restaurant & Bäckerei) einige ihrer Leute für Aktionen während der Volksblockade frei und versorgte die Teilnehmer mit Nahrungsmitteln. Unsere Zielvorstellung ist die, dass Alternativen in der Lage sind, alle notwendigen und nützlichen Güter zu erzeugen, zu transportieren und zu verteilen. Die MNS stärkt diese Gemeinschaft und Solidarität, indem sie Alternative Institutionen mit anderen wichtigen Aspekten der Bewegung für gesellschaftliche Veränderung verbindet.“
Gemeinschaften oder Kommunen
Des Leben und Arbeiten in Gemeinschaften ist eine wichtige Sache für die Leute in der MNS. Es gibt die Gelegenheit, neue Werte und Prioritäten zu leben und damit zu experimentieren. Einfaches Leben wird angestrebt. Errungenschaften der Technik wie Autos werden gemeinsam benutzt. Gemeinschaften schützen gegen Verzweiflung und oftmals feindliche Einflüsse der Umwelt. Natürlich gibt es Probleme in einer Gemeinschaft, Die Leute in der MNS gehen sogar noch weiter, indem sie sagen, dass Konflikte natürlich und unvermeidlich sind, dass sie sogar wünschenswert sein können, damit die Gemeinschaft in Tiefe und Engagement wachsen kann. Um diese Probleme zu bewältigen, müssen bestimmte Verfahren entwickelt werden, z.B. regelmäßige Hausversammlungen. Bewusste Anstrengungen werden unternommen, um die Beteiligung eines jeden am Gemeinschaftsleben zu ermöglichen und sicher zu stellen. "MNS- Gemeinschaften entwickeln sich nicht um ’Gurus’ herum. Leute mit Führungsqualitäten sind zwar wertvoll für eine Gemeinschaft, jedoch lassen sich daraus keine Vorrechte ableiten." Die Aufteilung der Arbeit geschieht nicht nach unseren sexistischen Traditionen (die Frau sorgt für Küche und Kinder), sondern es wird eine gleichmäßige Verteilung der Aufgaben in der Familie, im Haus und beim Geldverdienen zwischen Frauen und Männern angestrebt.
Organisationsstruktur Netzwerk
Welche Struktur soll eine gewaltlose revolutionäre Bewegung haben? Traditionelle Organisationen zeigen autoritäre Formen, die beseitigt werden sollen. Die Ziele der Revolution müssen daher in die Art und Weise, wie sie organisiert wird, eingebaut werden. Die Bewegung muss also auf den Grundsätzen der Gleichheit und Dezentralisation aufgebaut werden.
Die MNS baut ein Netzwerk kleiner Gruppen, die auf verschiedenen Gebieten für eine radikale gewaltlose gesellschaftliche Veränderung arbeiten. Sie ist eine Vereinigung sich beteiligender Gruppen und nicht einzelner Mitglieder. Obwohl jede Gruppe autonom ist, ist sie den anderen gegenüber verantwortlich. Das drückt sich darin aus, dass
sie Ideen und Erfahrungen miteinander teilen, dass sie Entscheidungen treffen, die das ganze Netzwerk betreffen, und in der gegenseitigen Hilfe in Krisenzeiten. Des Kriterium für sich beteiligende Gruppen ist das Übernehmen dieser Verantwortungen: egalitäre innere Struktur, Zustimmung zur strategischen Gewaltlosigkeit, Beteiligung an der Entwicklung einer Analyse des gegenwärtigen System und an der Planung revolutionäre Ziele. Diese kleinen Gruppen oder Kollektive sind die Grundeinheiten der MNS.
Eine Reihe verschiedener Kollektive haben sich entwickelt:
Die GEWALTLOSEN REVOLUTIONÄREN GRUPPEN.
Ihre Funktion ist es vor allem, Projekte für gewaltlose direkte Aktionen zu entwickeln. BEWEGUNGSAUFBAUKOLLEKTIVE haben die Funktion, die Bewegung auszubauen und effektiver zu machen. Dazu gehört Informationssammlung, Forschung, Analyse, Training und Kommunikation. ALTERNATIVE INSTITUTIONEN sind Experimente der Dienstleistung, des Verbrauchs und der Produktion ohne Ausbeutung.
LIFE CENTERS sind größere Gemeinschaften, die vor allem den Zweck haben, Leute darauf vorzubereiten als wirksame Katalysatoren für gesellschaftliche Veränderung zu arbeiten.
Entscheidungen im Netzwerk werden aufgrund von einstimmigen Beschlüssen gefasst.
Das Netzwerk wird auf verschiedenen Ebenen entwickelt - örtlichen, regionalen und kontinentalen. Die kleinen Gruppen beteiligen sich an Diskussionen und Entscheidungen auf jeder dieser Ebenen. Dies geschieht während der Netzwerktreffen und den mehr Informellen Treffen, manchmal "celebrations" (Feste) genannt. Das "Büro" der MNS befindet sich in Philadelphia und wird vom KONTINENTALEM BEWEGUNGSAUFBAU . KOLLEKTIV verwaltet, Jede MNS Gruppe arbeitet mit, um sich an der Verantwortung dieses Kollektivs zu beteiligen, das auch den "dandelion“ (Löwenzahn), einen gedruckten Rundbrief der MNS herausgibt. Außerdem wird noch ein interner Rundbrief "Wine’ (Wein) von einem INTERNEN KOMMUNIKATIONSKOLLEKTIV, das jährlich wechselt, herausgegeben.
Eine Besonderheit der MNS ist ihre Beschäftigung mit der Frage der Methoden, z.B. der Frage der Methoden im Gruppenbildungsprozess. Es gibt kaum eine andere Gruppe oder Organisation, die sich zu den gleichen Zielen wie Dezentralisation und Gleichheit, Beseitigung von autoritären Verhaltensweisen und Strukturen bekennt und die ein derartiges Gewicht auf die Frage der Methoden legt. Oft sieht man, dass Gruppen, die autoritäre Strukturen beseitigen wollen, der Frage der Methoden aus dem Wege gehen und sich dann ziemlich unstrukturiert entwickeln. Dadurch können sich Bedingungen entwickeln, in denen sich Hierarchien oftmals in versteckter Form einschleichen und zu Frustrationen führen, die nicht leicht erklärbar erscheinen. Gerade auch aus diesen Gründen verdient die MNS besondere Aufmerksamkeit.
Dies ist Teil 3 der Artikelserie "Wie sollen wir uns organisieren?" in der "graswurzelrevolution"
Nr. 9/10 , Sommer 1974, S. 3-4.
Es ist an der Zeit, die Diskussion bezogen auf die aktuellen Bedingungen neu aufzunehmen.
Beiträge dazu sind sehr erwünscht.
(1)
Zu dieser Kampagne auch das Buch von Uwe Painke:
"Ein Stadtteil macht mobil. Gemeinwesen gegen Gewaltkriminlität. Neighborhood Safety in den USA" LIT Verlag 2001 ISBN 3-8258-5600-3
Vortrag über die Movement for a New Society von Andrew Cornell:
Andrew Cornell - Lessons from Movement For A New Society
Zu Wolfgang Zucht:
https://www.erinnerungen-im-netz.de/erinnerungen/erin-artikel/graswurzelrevolution-auf-dem-lindenberg/