Wolfgang Hertle
Von Aktivisten und Reservisten
Anmerkungen zum Zustand der "gewaltfreien Bewegung"
On-line gesetzt am 19. November 2015
zuletzt geändert am 6. August 2018

Der folgende Artikel erschien im Herbst 1979. Viele damals aktuelle Fakten sind natürlich durch den Lauf der Ereignisse überholt. Damals ging der Gorleben-Konflikt ins dritte Jahr. In den 36 Jahren seither hat sich viel verändert, sei es die politische Lage im allgemeinen oder der Zustand der Ökologie-, Anti-Atom-, Friedens-, und der gewaltfreien Bewegung.

Bei aller Veränderung und zweifellos auch einigen Verbesserungen verbleiben noch viele Schwächen und sie bleiben u.a. unverändert, weil sie in der Bewegung zu wenig analysiert und ernst genommen werden.
Demnächst sollen weitere Texte folgen, die sich mit der heutigen Situation der gewaltfreien Bewegung auseinandersetzen. Eure Einschätzungen und Veränderungsvorschläge sind willkommen, lasst uns in ein konstruktives Gespräch kommen.

Seit mehreren Monaten ist die Leserbriefseite der ’Elbe-Jeetzel-Zeitung’ (1) von einer hitzigen Diskussion um die Frage Gewalt - Gewaltfreiheit bestimmt. Anlässlich der Aktionen um die Flach- und Tiefbohrungen zu Gorleben fordern sowohl CDU- wie SPD-Politiker die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg auf, sich von den gewalttätigen Aktionen zu distanzieren, die vor allem durch Auswärtige in den friedfertigen Landkreis hinein getragen worden seien.

Mit Gewalt bezeichnen die Anwälte von „Gesetz und Ordnung" jegliche Überschreitung von Gesetzen und Anordnungen, seien es Sitzblockaden oder Beschädigungen von Bohrlöchern, „wildes Plakatieren" oder das Legen von Nagelbrettern gegen Polizei- und BGS-Fahrzeuge. Das konzentrierte Kesseltreiben hat die Absicht, die Atom-Gegner in die herkömmlichen Bahnen der im Ernstfall wirkungslosen politischen Willensdarstellung zurück zu treiben und die „guten" von den „bösen", d.h. nach ihrer Definition gewalttätigen, Demonstranten abzuspalten. Selbst wenn Einzelne der auswärtigen Demonstranten sich nicht an die Strategie der örtlichen Bürgerinitiative, nämlich an den gewaltfreien und dezentralen Widerstand gehalten haben, so ist diese Einstellung der „Volksvertreter" Ausdruck einer Doppelmoral angesichts der zahlreichen gewaltsamen und durch keinerlei Rechtsvorschriften abzudeckenden Übergriffe der uniformierten Ordnungshüter, die ihrerseits keineswegs vor Sachbeschädigung und Körperverletzung zurückschrecken
z.B. „chemical mace"-Einsatz sogar in geschlossene Fahrzeuge hinein und gegen schwangere Frauen, Versuche, Autos von Demonstranten mit Hilfe von Baumstämmen umzukippen, Absägen von Bäumen, auf denen Menschen sitzen usw.
Neben der in einer überwiegend konservativ eingestellten Region besonders brisanten Frage der Legalität wird vor allem das Thema Sachbeschädigung bei Protest- und Verhinderungsaktionen diskutiert.

Eine Bäuerin fasste im Gespräch mit dem Verfasser die Einstellung vieler Landwirte zu dieser Frage so zusammen:
„Unsere gesamte Erziehung lief darauf hinaus, dass man das Eigentum anderer respektieren muss. Wir beschädigen nichts, weil wir auch nicht wollen, dass jemand unser Eigentum zerstört. Aber wenn man sieht, was hier im Landkreis passiert und was da vorbereitet wird, stellt sich doch die Frage: Was bleibt denn anderes übrig? Auf was anderes reagieren die da oben ja sowieso nicht!"

Es ist aber nicht das Anliegen dieses Beitrages, die Problematik der Sachbeschädigung oder gar der Sabotage im Verhältnis zu einer gewaltfreien Strategie im allgemeinen oder im Falle GorIeben im Besonderen zu behandeln.
Es geht grundsätzlicher um die Frage, weshalb es für staatserhaltende Politiker in Deutschland so leicht ist, mit ihrer selbstgefertigten konservativen Definition von Gewaltfreiheit z.B. Bürgerinitiativen zu maßregeln. Oder andersherum gefragt, weshalb tun sich die „Gewaltfreien" so schwer, die Schlagkraft der gewaltfreien Aktion durch ihre Praxis zu beweisen und so den Begriff in der öffentlichen Meinung eindeutig zu definieren?

Bizarr ist wie ähnlich manche der Menschen, die in der parlamentarischen Demokratie das Optimum an Konfliktregelung sehen, und andererseits Kritiker des parlamentskritischen Systems Gewalt bzw. Gewaltfreiheit beurteilen:

„Gesetzesübertretungen sind Gewalt, und von der Sachbeschädigung zum Angriff gegen Menschen ist es nur ein minimaler Schritt" sagen die einen; „Gewalt geht von den Herrschenden aus, Gegenwehr ist legitim und Gewaltfreiheit ist ein ideologischer Trick der Herrschenden, um Widerstand zu verhindern’, sagen die anderen.
Dazwischen müssen die Gewaltfreien einen Ausweg zwischen Resignation und Gegengewalt aufzeigen.

Die Bauplatzbesetzung in Wyhl war z.B. sowohl illegal als auch gewaltlos, auch wenn dabei Sachen, wie der Bauzaun, beschädigt wurden. Der Staat wagte keine Strafverfolgung, weil die Bauern und Winzer im Kaiserstuhl Erfolg hatten. Gesetzgebung wie Rechtsprechung richten sich nach politischen Kräfteverhältnissen und wenn die Bevölkerung aktiv für ihre Interessen eintritt, fällt dieses Kräfteverhältnis zugunsten dieser Interessen aus.

Bezeichnenderweise wurde die bisher (1979- W.H.) wirksamste aller Blockaden im Wendland von Bauern durchgeführt, als im Mai vierzig Traktoren drei Tage die Bohrfahrzeuge im Depot festhielten. Wenn die Behörden nun sieben unter den Bauern herausgreifen und über eine Strafanzeige Schadensersatz für die behinderten Bohrungen eintreiben wollen, so ist dies als Test des Kräfteverhältnisses zwischen dem Widerstand und den Betreibern der Atommülldeponie zu werten.
Im Gegensatz zu Brokdorf und Grohnde hatten um Gorleben große Teile der Bevölkerung mobil gemacht, unabhängig von politischen Standorten, Alter oder Berufszugehörigkeit - eine wesentliche Voraussetzung für gewaltlosen Widerstand, der immerhin bereits den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage an diesem Standort verhindern konnte! (2)

Je intensiver die einheimische Bevölkerung selbst gewaltlos aktiv wird, ohne sich von irgend jemandem (seien es die gewählten Politiker oder Gruppen von außerhalb) vertreten zu lassen, desto geringer wird die Chance für Gewalt. Ohne in den Chor der Diffamierung gegen auswärtige Demonstranten einstimmen zu wollen, ist die Feststellung erlaubt, dass kleinere zu Gewalt bereite Gruppen durch das konsequente Festhalten der Bürgerinitiative am gewaltfreien Konzept an diesem entgegen arbeitenden Aktionen weitgehend gehindert wurden..

Nutzen die Gewaltfreien das dezentrale Widerstandskonzept?
Hier interessiert uns zunächst die Frage nach dem Beitrag und Einfluss der bundesrepublikanischen gewaltfreien „Bewegung’ in der Auseinandersetzung um Gorleben, als einer Schlüsselposition für das weitere Schicksal des gesamten Atomprogramms. Neben der maßgeblichen Eigenanstrengung der Bürgerinitiative (BI) Lüchow-Dannenberg für die Verwirklichung des gewaltfreien Widerstandskonzepts spielen vor allem die Gorleben-Freundeskreise eine wichtige Rolle, die aus Mitgliedern von Gewaltfreien Aktionsgruppen,des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) und anderen BIs bestehen und sich seit Januar 1978 regelmäßig treffen. (3)

Das von Freundeskreisen und BI Lüchow-Dannenberg erarbeitete dezentrale Widerstandskonzept, vorgestellt im „Aufruf zum Widerstand" (4), wurde an den beiden bundesweiten Aktionstagen, am 30. Juni und am 27. Oktober 1978, einer „Polizeikampagne" sowie bei zahlreichen Aktionen anlässlich der Flachbohrungen im März und dem Beginn der Tiefbohrungen im September 1979 ansatzweise durchgeführt.

Doch bei weitem nicht alle Atomkraftgegner, und ebenso wenig alle Gewaltfreien scheinen die Konsequenzen aus der zentralen Einsicht „Gorleben ist überall" gezogen zu haben. Überall werden die Bedingungen geschaffen, hochgiftigen Atommüll herzustellen und damit die Notwendigkeit ihn zu lagern. So ist auch überall Widerstand möglich und notwendig. Jeder Bundesbürger hat in seiner nächsten Umgebung Ansatzpunkte, um „Sand ins Getriebe zu streuen", sich zu verweigern mit dem Ziel, gemeinsam die Atom-Maschinerie zu stoppen. Wenn diese Chance so wenig genutzt wird, dann nur wegen der auf Gewalt und Masse eingefahrenen Wahrnehmungsgewohnheiten der Massenmedien, denen es schwer fällt, flächendeckende dezentrale Mobilisierungen ebenso wiederzugeben wie kurzfristige Massenaufmärsche an zentralen Orten. Zu viele AKW-Gegner haben den dezentralen Widerstand als eine Ebene der Öffentlichkeitsarbeit missverstanden und setzen den eigentlichen Widerstand mit „Großkundgebungen" gleich.

Darunter verstehen die einen Bauplatzbesetzungen aus einer schützenden Menschenmenge heraus, die anderen glauben, Politiker mit sich steigernden Teilnehmerzahlen beeindrucken zu können.

’Beide zentralistische Formen „Politik zu machen" vermögen kaum vom Mangel an Hoffnung ablenken, vor Ort, das heißt im eigenen Wohn- und Lebensbereich, effektive Überzeugungsarbeit und Widerstand leisten zu können. Trotz der Schwierigkeiten, sich im Bewusstsein und vor allem in der Praxis der Ökologiebewegung durchzusetzen, bleibt das dezentrale und gewaltfreie Widerstandskonzept nahezu der einzige Ausweg zwischen Kapitulation und blutigen „Entscheidungsschlachten" In Gorleben und anderswo.

Mit welcher Berechtigung kritisieren „die Gewaltfreien" diejenigen, die mit ihrem „praktischen Widerstand" d.h. durch Sabotageaktionen anonym und bei „Nacht und Nebel" der Atomindustrie sowie den Beihilfe liefernden Kleinfirmen möglichst großen Materialschaden zufügen?

Nicht nur die Bevölkerung .des Wendlands (deren Beteiligung an illegalen Aktionen nahezu revolutionären Charakter hätte) fehlte bei den gewaltfreien Blockade- und „Menschenteppich" aktionen bei den Aktionstagen. Auch von den Tausenden Mitgliedern der gewaltfreien Organisationen, wie z.B. BBU, Versöhnungsbund, z.T. auch der Gewaltfreien Aktionsgruppen usw. war wenig zu sehen. Wie sollen gewaltfreie Aktivisten in Diskussionen mit einsatzbereiten und gut organisierten Gewaltbefürwortern standhalten, wenn sie nur extrem wenige ihrer Gleichgesinnten mobilisieren können? Ist es nicht absurd, wenn sich an den gewaltfreien direkten Aktionen mehr Menschen beteiligen, die nur aus taktischen Gründen gegen Gewalt sind, als grundsätzliche Gewaltfreie?

Ähnliches wie hier im Zusammenhang mit Gorleben ließe sich auch über den Stromzahlungsboykott und andere Kampagnen sagen.

Den Schutz der Öffentlichkeit nutzen

Der zweite Gorleben-Aktionstag in Hamburg verdeutlicht eine der Chancen, die die Gewaltfreien bislang zu wenig genutzt haben: Die „Gewaltfreie Aktion Hamburg" legte zusammen mit der, `Hamburger Initiative Kirchlicher Mitarbeiter und Gewaltfreie Aktion’ einen „Menschenteppich" vor das Verwaltungsgebäude der HEW und blockierten so vor allem den Eingang zur Tiefgarage der Elektrizitätsgesellschaft. Bei dieser illegalen Aktion in einer Gegend mit wenig Passanten zwischen 5 und 8 Uhr morgens kam es trotz starker Polizeipräsenz zu keinerlei Zwischenfällen oder Verhaftungen. Am selben Tag rollten Mitglieder der BUU (Bürgerinitiative Umwelt- schutz Unterelbe) in der belebten Fußgängerzone der Innenstadt „Atommüllfässer’ und erlebten wegen dieser vergleichsweise harmlosen Aktion Schlagstockeinsatz und Ausweiskontrollen.

Das völlig entgegengesetzte Verhalten der Polizei bei den beiden Demonstrationen erklärt sich meines Erachtens sowohl durch die unterschiedliche soziale Zusammensetzung der Demonstrantengruppen wie durch die vorausgegangene Darstellung der Aktionen. Vor dem HEW Gebäude wussten Polizei und Geschäftsleitung sehr genau, teilweise sogar namentlich, mit wem sie es zu tun hatte, nämlich mit Pastoren, Lehrern, Diakonen, Studenten und älteren Menschen, die unzweideutig den gewaltfreien Charakter ihrer Aktion klarzumachen verstanden. In der Mönckebergstraße dnagegen demonstrierten „namenlose" Jugendliche, die äußerlich dem Demonstrantenklischee entsprachen. Sie besaßen so wenig Schutz der Öffentlichkeit, dass sie direkt vor den beobachtenden Passanten verprügelt werden konnten, obwohl ihre Aktion faktisch gewaltlos war. Natürlich ist eine solche willkürliche Unterscheidung durch die Staatsgewalt nach Opportunitätsgründen zu verurteilen, es bleibt die Frage nach den Konsequenzen, wie Effektivität zu erreichen ist, ohne Prinzipien zu verraten.

In diesem Zusammenhang muss ich an eine Bemerkung des früheren Vorsitzenden des französischen Versöhnungsbundes René Cruse denken, der sich bemühte, berufstätige aber auch pensionierte Menschen zu direkten gewaltfreien Aktionen zu bewegen:

„Mit welchem Recht verheizen wir eigentlich immer nur junge Menschen in riskanten gewaltfreien Aktionen, die doch noch ein ganzes Leben mit Beruf und Familie vor sich haben und daher mindestens soviel riskieren wie berufstätige Menschen? Es müsste uns doch allen gleichermaßen ernst sein. Zumindest Rentner können mit Sicherheit durch politische Aktivität keine beruflichen Schwierigkeiten mehr bekommen!” Hier gelangen wir an eine meines Erachtens zentrale Frage an die gewaltfreie „Bewegung" in der BRD.

Gefährliche Arbeitsteilung
Es gibt offenbar eine sehr gefährliche Aufgabenteilung, ja sogar eine tiefe Kluft zwischen zwei Gruppen von Gewaltfreien:
 Die überwiegend jüngeren Mitglieder der Gewaltfreien Aktionsgruppen (meist Studenten und Schüler, seltener Lehrlinge) nehmen den Aktions-Aspekt der Gewaltfreiheit sehr ernst und gehen dabei (Gorleben, Totalverweigerung usw.) ein relativ großes Risiko ein. Dem entsprechen eine radikale Gesellschaftskritik und hohe Ansprüche, gemessen an der Verwirklichung einer gewaltfreien und herrschaftslosen Gesellschaft.

 Meist ältere Gewaltfreie, z.B. im Versöhnungsbund, verfolgen diese Aktivitäten aus einer sympathisierenden Distanz, geben mit Geld und manchmal mit publizistischen oder institutionellen Mitteln „Schützenhilfe". Darüber hinaus konzentrieren sie sich auf Öffentlichkeitsarbeit in Kirche und Gesellschaft.

 Auffällig ist die schwache Präsenz des ,,Mittelalters" der Generation, die das politische Geschehen und die Berufswelt der Gesellschaft am spürbarsten beeinflusst.

Die Gruppe der „Aktivisten" fühlt sich von den „Sympathisanten" oft in der Aktion alleingelassen und unternimmt daher wenig Anstrengungen, ins Gespräch und in Zusammenarbeit zu kommen. (Oder ist es umgekehrt, daß es nicht zu gemeinsamen Aktionen kommt, weil zu wenig Versuche zur Verständigung stattfinden ?) Tatsache ist, daß zu selten Brücken geschlagen, Erfahrungen und Wünsche ausgetauscht werden. Aus eigener Erfahrung kann ich das Gefühl gut nachvollziehen, völlig am Anfang einer Bewegung für gewaltfreie Gesellschaftsveränderung zu stehen, obwohl klar ist, daß es schon viel früher, auch in der Bundesrepublik Theorie - und Organisationsansätze gegeben hat. Neben den mehr oder weniger kritischen Darstellungen der größeren Verbände wie DFG, lDK, VK, VB oder dem Ostermarsch fehlen Darstellungen und Analysen gewaltfreier Gruppierungen wie dem Hamburger „Aktionskreis für Gewaltlosigkeit", der Stuttgarter „Gewaltfreien Zivil-Armee", dem Hannoveraner Kreis,,Direkte Aktion",so daß Jüngere auch nicht aus deren Erfahrungen, Erfolgen und Fehlern lernen können. (6)

Eine entsprechende Verarbeitung und Vermittlung von Erfahrungen zwischen.den „gewaltfreien Generationen" sollte dringend z.B. in der „Gewaltfreien Aktion" und in Begegnungen, z.B. im geplanten Gorlebener Tagungshaus geleistet werden.

Die meisten der Jüngeren waren vorher in Organisationen, die Einzelziele wie Kriegsdienstverweigerung verfolgen, sich aber nicht im allgemeinen Sinne als gewaltfrei verstehen und daher auch nicht auf allen Lebensbereichen nach gewaltfreien Alternativen suchen. Enttäuschungen über Verbandsstrukturen, die nicht mit dem Ziel der allumfassenden Gewaltfreiheit übereinstimmen, schufen das Bedürfnis nach einem autonomen Neubeginn, der sich an den selbstgesteckten Zielen orientiert und nicht von vorneherein auf Grund verbandspolitischer Bedingungen Kompromisse beinhaltet. Sie weigern sich die kompromittierende Kunst des „Krötenschluckens" zu lernen und streben stattdessen in kleineren autonomen Gruppen die Einheit der organisatorischen Mittel mit dem Ziel der Gewaltfreiheit an. Der ‚realpolitische Machtmissbrauch, den sie auch In „KDV - Gewerkschaften" kennenlernen mussten, wirkt sich bei vielen Graswurzlern lähmend auf die Entwicklung eigenständiger überregionaler Organisationsformen aus. (7)

Die hohe Sensibilität, die Ablehnung von Delegation aus der Befürchtung, höhere Organisationsebenen müssten zur Verselbständigung gegenüber der Basis führen, bringt u.a. Schwierigkeiten, auf überregionaler Ebene ggf. rasch zu verbindlichen Beschlossen zu kommen. Da die zahlenmäßig nicht gerade starke Basis mit der Arbeit vor Ort, „an den Graswurzeln", mehr als ausgelastet ist, bleibt für rätedemokratische Kontrolle von Delegierten in bundesweiten Beiräten (z.B. ‚Werkstatt-Beirat", Graswurzelrevolution - Herausgeberrat) nicht genügend Zeit und Kraft. Da die Delegierten nicht über die Basis in den Gewaltfreien Aktionsgruppen hinweg entscheiden wollen, stehen sie oft vor dem Dilemma, entweder auf Beschlüsse zu verzichten (da sie nicht im Detail beauftragt sind) oder aber auf den Anspruch, Delegierte zu sein.

Ältere Mitglieder in Vereinen, wie z.B. dem Versöhnungsbund fällt es manchmal schwer, die wichtige Arbeit der „Graswurzler“ überhaupt wahrzunehmen, da diese keine Mitgliedschaft, keinen Vorstand oder Jahrestagungen kennen. Doch solche eingefahrenen Wahrnehmungsgewohnheiten dürfen nicht an der Erkenntnis hindern, dass von den Gewaltfreien Aktionsgruppen der nachhaltige Einfluss auf Bürgerinitiativen und unorganisierte Kriegsgegner ausgeht. Mehr noch, manche Verbandszentrale spürte In den letzten Jahren ein Umdenken in ihrer Mitgliedschaft hin zu politischer Analyse und direkter Aktion, das ohne die beständige Basisarbeit dieser Gruppen schwer zu erklären ist.

Leider dienen aber manche der Verhaltensweisen der „Jungtürken", die u.a. auch aus der relativen Isolation in Zirkeln Gleichgesinnter erwachsen, vielen Älteren als Vorwand, sowohl auf verständnisbereite konstruktive Hilfe, als auch auf berechtigte Kritik zu verzichten. Lieber bestätigen sie sich gegenseitig: „Als wir noch jünger waren, waren wir auch so idealistisch und radikal, aber das Leben hat uns reifer und realistischer gemacht. Wenn die erst mal älter werden, begreifen die das auch".

Dem entspricht eine (ebenso vereinfacht dargestellte) Haltung bei manchen Jüngeren:

„Die Zwänge durch Beruf und Familie, aber auch Verbandsstrukturen korrumpieren unsere Ziele, hindern uns an der revolutionären Praxis. Angenommen, diejenigen, die sich „arrangiert” haben und ihren Protest nur noch verbal äußern, benutzen diese Zwänge nicht nur als Vorwand für Bequemlichkeit und Inkonsequenz, dann dürfen wir uns eben nicht arrangieren. Im Extrem bedeutet dies, dass ein ordentlicher Beruf und die Gründung einer Familie nicht mit dem Kampf um unsere Ideale zu vereinbaren sind".

Eine solche (existierende, wenn auch nicht durchgängig verbreitete) Einstellung ist menschlich, aber auch politisch sehr bedenklich, weil sie ein gerüttelt Maß an Resignation an den Möglichkeiten enthält, die Gesellschaft von unten und von innen zu verändern. Sie sollte jedoch ernst genommen werden, da sie auch aus der Beobachtung herrührt, wie viele Menschen auf dem „Marsch durch die Institutionen" ihre Ideale aufgegeben oder auf deren Umsetzung verzichtet haben.

Bleiben nämlich beide „Seiten" unter sich und kultivieren ihre gegenseitigen Vor-Urteile, kann es zu keiner fruchtbaren Auseinandersetzung, zu gemeinsamem Lernen und Zusammenarbeit kommen. Dann schaukeln sich die Extreme beide Seiten gegenseitig hoch, arbeiten daran, das „Feindbild" von der anderen Seite der Wirklichkeit ähnlicher zu machen und der. ausschließliche Hinweis auf die Fehler der „Gegen"-Seite hilft nur dazu, die eigenen nicht erkennen und abstellen zu müssen.
Politisch schädlich ist, dass der tiefer werdende Graben zwischen eigentlich natürlichen Verbündeten nur dem gemeinsamen politischen Gegner nützt.

Absurd wird die Situation dadurch, dass meist sogar der Graben, der Konflikt und damit die Notwendigkeit zum Gespräch geleugnet wird. Darf das bequeme Umgehen einer unangenehmen Auseinandersetzung dazu führen, die anders geartete Meinung, ja sogar den möglichen Gesprächspartner selber zu verleugnen?

Gewaltfreiheit oder Machtlosigkeit?
Die Gewaltfreien in Deutschland stehen vor der Entscheidung:
 Entweder sie finden gemeinsam einen gangbaren Weg aus der nur verbalen, aus der Negation bestimmten Gewaltlosigkeit (alle sind sich einig, daß zumindest die krassesten Fehlentwicklungen und Gewaltformen der Gesellschaft wie Militarismus und Umweltzerstörung bekämpft werden müssen und das sie selbst keine Gewalt anwenden wollen). Dies würde Einigungsbemühungen über die positiven Ziele einer gesellschaftlichen Alternative, zumindest aber die Entwicklung von Strategien, Koordination, Organisation und nicht zuletzt Aktionsmöglichkeiten verlangen.

 Oder aber die Gesellschaft wird zum Schluss kommen, daß Gewaltfreiheit nicht mehr als eine individuelle Geisteshaltung bedeutet, die kaum in effektive Aktionen und Kampagnen umgesetzt werden kann.

In diesem Fall sollte die Literatur über Gewaltfreie Aktion und Zivilen Ungehorsam besser eingestampft werden, um zu verhindern, daß aktionsbereite Menschen durch diese Begriffe neue Hoffnung schöpfen, um danach in Resignation oder Marginalisierung getrieben zu werden. Wenn die Befürworter der Gewaltfreien Aktion selbst nicht durch ihre Taten glaubwürdig bleiben oder werden, treiben sie unter Umständen andere, die sie beim Wort nehmen und handeln, in die Kriminalisierung.

Ohne Zweifel besteht die Gewaltfreiheit nicht allein aus direkten und eventuell illegalen Aktionen. Protest, Information, Versöhnung zwischen streitenden Gruppen, Erziehung zum Frieden und andere legale Formen der Öffentlichkeitsarbeit gehören unverzichtbar dazu. Aber mit dem freiwilligen Verzicht auf die direkte Aktion wird die Gewaltfreiheit eines ihrer wesentlichsten Elemente beraubt, unterscheidet sich kaum mehr von humanistischen Bemühungen mancher anderer parlamentarischen oder außerparlamentarischen Gruppe. Doch warum sollten ausgerechnet in der Bundesrepublik nicht wirksame Kampagnen gewaltfreier Aktion möglich sein, wie wir sie aus anderen Ländern (z.B. USA oder Frankreich) kennen?

In diesen Ländern verbietet die eindeutige Praxis der Gewaltfreien die Usurpation und Verfälschung des Begriffs Gewaltfreiheit, wie z.B. durch Kurt Georg Kiesinger anlässlich eines Gandhi-Jubiläums, durch Walter Scheel vor der UNO oder durch die erwähnten Politiker im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Wenn in den Bürgerinitiativen heute schon weit mehr Menschen aus taktischen Gründen gewaltlose Aktionen durchführen als diejenigen, die schon immer grundsätzlich von der Gewaltfreiheit überzeugt waren, deutet dies auf die große Chance hin, die Methoden und Grundsätze in noch breitere Bevölkerungsschichten hineintragen, wenn die organisierten Gewaltfreien sich aufraffen, mehr Orientierungshilfe und Glaubwürdigkeit aufzubringen.

Was tun?
Es ist sicher nicht möglich, auch kaum anzustreben, nun den Versuch zu unternehmen, all die Gewaltfreien, die verstreut in Kriegsdienstverweigerer-Organisationen, Friedensdiensten, Bürgerinitiativen, in Kirchengemeinden und Jugendorganisationen oder bei den Grünen arbeiten, in einem einzigen Verband zu erfassen und in eine eindeutige politische Zielrichtung zu zwängen. Der Einfluss auf diese Initiativen ist zu wichtig und es gibt Rechtfertigungen für die verschiedensten Ansätze.

Dennoch sollten wir uns, wo immer wir auch arbeiten, gemeinsam um die Beantwortung einiger Fragen bemühen:
 Was kann in den bestehenden gewaltfreien Gruppen, Verbänden, und Organisationsansätzen verbessert werden, um die Zusammenarbeit zu fördern? Welche Querverbindungen können geschaffen werden, um mehr Einsicht und Verständnis in die Arbeit und Probleme anderer Gruppierungen zu schaffen?
 Training und gemeinsame Aktionen vor Ort sind sicher gute Mittel, Vorurteile zu überwinden, Schwächen aufzuspüren und zu beseitigen.

 Wie kann der aktionsorientierte Anteil der Gewaltfreiheit so verstärkt werden, daß er Handlungsmöglichkeiten für möglichst viele „normale" Menschen aufzeigt? Die Gewaltfreien stehen unter den selben Zwängen wie andere Menschen auch: Zeitmangel, berufliche und Familiäre Verpflichtungen, Angst vor Repressionen usw.. Aber eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, aufzuzeigen, wie diese Zwänge, ansatzweise wenigstens, reduziert und überwunden werden können. Aufgabe von „Basisarbeitern" in diesem Zusammenhang ist nicht, für andere Arbeit oder Risiko zu übernehmen, sondern mitzuhelfen, daß die gesellschaftsverändernde Energie insgesamt größer wird - Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.

 Wie können die gewaltfreien Zeitschriften effektiver eingesetzt werden? Auch wenn ich mir den Zorn mancher Redakteure zuziehe, glaube ich nach wie vor, daß Publikationen wie z.B. bbu-aktuell, graswurzelrevolution, gewaltfreie aktion, Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, verschiedenste Verbandsrundbriefe Energie verschwenden, solange nicht eindeutiger die Aufgaben, Zielgruppen und andere Spezifika definiert sind und an den Zeitschriften diese unverwechselbaren Aufgaben abzulesen sind. Zumindest solange jedes Blatt ähnliche Probleme bei der Materialbeschaffung, Redaktions- und Vertriebskapazität sowie der Finanzen hat, bleibt mir unverständlich, weshalb es nicht zu Gesprächen zwischen den Redaktionen kommt, zumal die aktivsten Schreiber ebenso wie die wichtigsten Inhalte oft in mehreren Blättern gleichzeitig zu finden sind.

 Last not least die zentrale Frage nach den Inhalten der gewaltfreien Aktionen: Welche Konsequenzen hat die Ziel-Mittel-Relation auf die Aussagen der Gewaltfreien zu den Zielen der Gesellschaftsveränderung? Oder kann das Mittel der gewaltfreien Aktion für unterschiedlichste politische Ziele eingesetzt werden?
Es könnte einen eigenständigen Artikel ausfüllen, wollte man darlegen, weshalb In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit Gewaltfreiheit kaum mit Gesellschaftsanalyse oder einer eindeutigen politischen Zielvorstellung verbunden wird.

In den gewaltfreien Reihen scheint fatales Missverständnis von Versöhnung und Toleranz vorzuherrschen, als ob es ein besonderer Vorzug sei, wenn Sozialdemokraten, und unpolitische Pazifisten, DKP-Sympathisanten und Anarchisten, Christen und Liberale gemeinsam das Wort Gewaltfreiheit benutzen und durch Ausklammerung ihrer Fernziele Konflikte untereinander vermeiden. Das Beispiel Larzac zeigt hingegen, das fruchtbare Zusammenarbeit auf der Basis von Gemeinsamkeiten wegen (und nicht trotz) der Offenlegung der politischen Unterschiede möglich ist.

Mir erscheint es ehrlicher und effektiver; Ausdruck wahrer Versöhnungsarbeit, sich in der Verschiedenheit zu achten, als Unterschiede zu leugnen und sich durch Schwammigkeit und politische Aussageunfähigkeit selbst zu lähmen. Mit vielen Menschen sehe ich logische Übereinstimmungen zwischen Idee und Praxis der Gewaltfreiheit und dem Ziel eines libertären Selbstverwaltungssozialismus, mehr als mit jeder anderen politischen Zielvorstellung. Dabei ist mir die riesige Aufgabe der Verwirklichung bewusst, die noch kaum begonnen hat.

Ernsthafte Auseinandersetzung auch mit konträren Ansichten können bei der Suche nach der „Wahrheit" nur von Nutzen sein, die in gemeinsamer Anstrengung Immer weiter zu suchen Ist- Es ist eine Seite der Medaille, auf Gewalt bei der Durchsetzung der eigenen Vorstellungen zu verzichten, die ändere Seite heißt Ringen um die Wahrheit. Konfliktvermeidung entspricht einem Zerrbild von Gewaltfreiheit.

Hier konnte nur ein Teil der wichtigen Fragen angesprochen werden, Dieser Beitrag möchte Anstöße zur Diskussion liefern, Diskussion innerhalb und zwischen den gewaltfreien Gruppierungen, in den Zeitschriften und auf Tagungen.

Der Schwerpunkt „Förderung der Zusammenarbeit gewaltfreier Gruppierungen verschiedener Herkunft und Altersstruktur" für die Bildungs- und Begegnungsstätte für Gewaltfreie Aktionen im Landkreis Lüchow-Dannenberg wurde auf Grund der hier skizzierten Probleme bewusst gewählt. Es ist höchste Zeit mit der Arbeit zu beginnen, in Gorleben und anderswo.

Anmerkungen
(1) Tageszeitung des Landkreises Lüchow-Dannenberg
(2) Zwischen der Standortbekanntgabe im Februar 1977 und Ende 1979 war die Bürgerinitiative im Landkreis relativ isoliert. Erst als die Bauern, den Treck nach Hannover beschlossen, wuchs das Engagement der wendländischen Bevölkerung so sehr, daß Albrecht schließlich die Wiederaufbereitungsanlage als „politisch nicht durchsetzbar" bezeichnete. Nach Albrechts Regierungserklärung im Mai 1979 klang die Aktionsbereitschaft allerdings wieder ab. Viele Kreisbewohner glaubten, mit der WAA das Schlimmste verhindert zu haben. Nur kurze Zeit danach kam Dragahn, unweit von Dannenberg erneut in die Diskussion als möglicher WAA-Standort. was im westlichen Teil des Landkreises neuen und starken Widerstand auslöste.
(3) Siehe die sehr informative Arbeit: „Gorleben ist überall, Bericht über das Wendland und die Entwicklung des zentralen Widerstandes"
(4) Siehe: Gewaltfreie Aktion, Heft 34135, 1, und 2. Quartal 1978, S. 43-45.
Dieter Halbach / Gerd Panzer: Zwischen Gorleben & Stadtleben
Erfahrungen aus drei Jahren Widerstand im Wendland und in dezentralen Aktionen
ISBN: 978-3-88713-029-9, 192 S , 1980 noch erhältlich im Verlag graswurzelrevolution
10,00 €
(5) Dokumentation der Aktionen vor den zentralen Verwaltungsgebäude der HEW zum 2. Aktionstag Gorleben. Gorlebengruppe der Gewaltfreien Aktion Hamburg, November 1976
(6) Eine Skizze der Gewaltfreien Aktionsgruppen nach 1972 habe ich versucht in Vorgänge Nr.31, 1978 unter dem Titel: Graswurzelrevolution in der Bundesrepublik?
(7) Siehe die derzeitige Diskussion im Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren’’,