Korntal, Oktober 1977 : "Wo bleibt das Mittelalter?"
"Todmüde, aber glücklich kam ich am Sonntag morgen mit Hilfe der Seniorenkarte und dem Nachtschnellzug wieder zu Hause an. Der 24.9. in Kalkar... war ein sehr schöner Tag. Die Sonne schien, die Menschen sammelten sich allmählich auf dem Marktplatz.
Nur mit Mühe und ganz spät hatte ich ein Nachtquartier ergattert, die Gastwirte in Kalkar waren gegen jeden, der das Abzeichen "Atomkraft? Nein Danke!" trug, sehr misstrauisch. Sie waren sichtlich aufgehetzt. Man hatte ihnen Angst gemacht. Wir aber waren von je her entschlossen, gewaltfrei zu demonstrieren !
Wir trafen viele Freunde, fast nur junge. Die Stimmung war durchaus fröhlich, obwohl man immer wieder hörte, dass die Reisebusse angehalten werden. Am Bahnhof wollte ich eine Freundin abholen, dort waren Polizisten mit ihren Hunden, die erst meine Flugblätter hart abwiesen und nach freundlichen Worten sich solche von mir holten. Feldmarschmässig ausgerüstete Polizisten stießen dazu und durchsuchten nach Absperren des Bahnhofs Leute, die dort lange nach ihrem Zug eintrafen. Merkwürdig! Sie waren von 6 Hubschrauber-Besatzungen aus ihrem Zug gesetzt worden. Unsere Stuttgarter trafen erst um 14 Uhr ein, wir fanden aber nur einzelne. Der Marktplatz wurde immer voller. In einem Kino liefen wiederholt Pressekonferenzen.
Aber wo waren die Älteren ? Warum lässt man bei Demonstrationen die Studenten und Jugendlichen immer wieder allein ? Dies möchte ich heute mal fragen. Mir wurde das Ganze nicht leicht, ich werde noch diesen Herbst 77. Ich spüre die Anstrengung noch heute, 6 Tage später. Man braucht gar nicht alles mitzumachen, ich bin nicht mit dem Bus gefahren und habe auch zum Schluss den Marsch zur Wiese nicht mehr mitgemacht, um meine schneller gehenden Freunde nicht zu hemmen. Den ganzen Tag über freuten sich die Jungen und auch Ältere über die alte Frau - und mich machte das sehr glücklich. Ich möchte darum Mittelalter und Alte herzlich bitten, geht künftig mit bei Demonstrationen, Ihr könnts schon ! Es kommt auf uns alle an ! Im Gegensatz zur Atomlobby sind wir sehr wenig und darauf angewiesen, unsre Meinung durch eine öffentliche Demonstration kundzutun. Wer hat denn etwas von uns zu fürchten, da wir ja gewaltfrei demonstrieren. Auch die Kalkarer Bürger waren nach diesem friedlich verlaufenen Tag, wenn nicht überzeugt, so doch wenigstens nachdenklich. Wenn es ihnen nicht allein ums Geld zu tun ist, mit dem sie die Atomlobby lockt, dann werden sie nicht mehr so leicht zu überzeugen sein. Auch manchem Polizisten wird diese Quälerei mit immer wieder stoppen allmählich peinlich gewesen sein.
Also Auf, Auf! Es geht ums Ganze, wir müssen es schaffen ! "
Trude Westhoff spricht in diesem Brief das Generationsproblem in der gewaltfreien Bewegung an. Wo bleibt "das Mittelalter" ?
Das Problem besteht weiterhin bis heute. Ob die damals 20jährigen, die sich über die Teilnahme einer einzelnen alten Frau freuten, heute noch an Demonstrationen und Aktionen teilnehmen ? Bei Aktionen im Wendland z.B. sind die TeilnehmerInnen von außerhalb überwiegend jüngere Menschen. Die DemonstrantInnen mittleren Alters und die Älteren sind dagegen meist Einheimische: Eine der vielen Besonderheiten des Wendland-Widerstands ist die (Senioren-) "Initiative 60".
Die Widerstandskraft rührt vor allem aus der Entschlossenheit derer, die sich aus existentiellen Gründen gegen die Bedrohung ihrer Heimat wehren. Die Gewalt wird von außen in die betroffenen Regionen getragen, Politik und Industrie bedienen sich der Polizei, um die Atomprojekte durch zu knüppeln. Es handelt sich aber um Probleme von überregionaler Bedeutung. Wir sind alle betroffen, air sind mitverantlich, den uns möglichen Teil am gewaltfreien Widerstand beizutragen. Das kann bedeuten, dass wir das Thema in unsere jeweiligen Wohnorte überall im Land tragen.
Denn: Gorleben oder Ahaus oder Büchel usw. ist überall !
Unbestreitbar gibt es reale Hindernisse für Menschen mittleren Alters mit ihrer besonderen Verantwortung gegenüber Kindern und Beruf, sich im Alltag freizumachen, um zu einer Aktion zu fahren. Diese Schwierigkeiten müssen ernst genommen werden, um wenigstens zum Teil überwunden werden zu können. Dazu fehlt es oft am Gespräch und damit am Verständnis zwischen den Generationen.
Das Engagement der Jungen in den gewaltfreien Aktionsgruppen und der Jugendumweltbewegung macht Mut. Sollten wir aus dem "Mittelalter" uns nicht mal wieder mit den Freunden treffen, mit denen wir vor 10 oder 20 Jahren Aktionen organisiert haben ? Etwa um auszutauschen, welche Aktivitäten im jetzigen Lebensabschnitt möglich sind, z.B. Unterstützungsaktionen an den Orten wo wir leben ?