Wolfgang Hertle
Welche Bündnispartner für gemeinsamen gewaltfreien Widerstand?
On-line gesetzt am 13. Dezember 2014
zuletzt geändert am 10. November 2023

Auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern 20 US-amerikanische Atomsprengköpfe, die, anstatt endgültig unschädlich gemacht, demnächst modernisiert werden sollen. Zwischen den Hiroshima - und Nagasaki - Gedenktagen (6.- 9.August) finden dort seit Jahren Aktionen statt, die auf die dort lagernden Atombomben hinweisen und ihre ersatzlose Verschrottung fordern.

Auch im letzten Jahr führte eine kleine Schar von Demonstranten eine Reihe von Blockadeaktionen durch. Was fehlte, waren (mit wenigen Ausnahmen) die einheimischen Bürger. Erst 1997 hatten die Bewohner der Region durch die bundesweite Kampagne Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen von der Existenz der Atom-Bomben erfahren. Die Menschen in den Dörfern scheinen nichts davon hören zu wollen, zumindest weigern sie sich, öffentlich Stellung zu beziehen und sei es nur durch die Beherbergung auswärtiger Demonstranten. In den 50 Jahren gab es in dieser konservativ ländlichen Region Proteste gegen die Remilitarisierung, an denen sogar die katholische Kirche beteiligt war. Heute sind kritische Einwände tabu, niemand will sich mit Nachbarn auseinander setzen, die vielleicht wirtschaftliche Vorteile von der Militärbasis haben oder an das „Argument Arbeitsplätze“ glauben. Lediglich der Lokalredakteur der „Rheinischen Post“ begleitet den Konflikt mit kritischer Berichterstattung. Er weist darauf hin, dass in den 80er Jahren im nahe gelegenen Kaiseresch eine geplante nukleare WAA durch konsequenten Widerstand verhindert wurde und dort - wie auch nach der Auflösung von Militärbasen in der Eifel – Hunsrück - Region mehr zivile Arbeitsplätze entstanden sind, als zuvor versprochen worden waren bzw. als bei den US- bzw. Bundeswehreinrichtungen gegeben hatte.

Was also tun, wenn die Menschen, die „auf dem Pulverfass sitzen“ Augen und Ohren verschließen und nichts dagegen tun?
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Die Kraft zur Veränderung ist besonders stark, wenn die Bevölkerung vor Ort aus dem Alltag heraus Widerstand leistet. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass sie die Gefahr erkennt, dass sie gegen Misstrauen und Neid zu einer gemeinsamen Haltung findet, wenn sie sich entschließt, ihre Interessen zu verteidigen und sich auf den Charakter ihres Widerstandes einigt ( wie es z. B. auf dem Larzac geschah).

Die Menschen im Umkreis eines umstrittenen Vorhabens haben bei der Verteidigung ihrer vitalen Interessen den großen Vorteil, dass sie die Gegebenheiten vor Ort gut kennen. Im optimalen Fall beteiligen sich alle sozialen Schichten, Berufe und Altersgruppen. Dadurch können sie ihr Anliegen und ihre Betroffenheit gegenüber der überregionalen Öffentlichkeit glaubwürdig vertreten und konstruktive Alternativen entwickeln.
Erfahrungsgemäß ist es weit schwerer, ein Militär- oder Industrieprojekt wieder loszuwerden, wenn es mal eingerichtet ist, als es von vorneherein zu verhindern
Was tun, wenn, wie in der Umgebung des Atombomben-Lagers Büchel, ein regionaler Widerstand fehlt?

Die Bürgerinitiativen im alemannischen Dreiländereck ließen sich in den siebziger Jahren von den erfolgreichen Aktionen der Bauernfamilien auf dem südfranzösischen Larzac inspirieren. Berichte vom Widerstand gegen den dortigen Truppenübungsplatz wurden ihnen von der Gemeinschaft der Arche und von gewaltfreien Aktionsgruppen in Freiburg, Straßburg und Basel nahegebracht. In grenzüberschreitender praktischer Solidarität verhinderten die regionale Bevölkerung insbesondere mit Platzbesetzungen den Bau des Bleichemiewerks in Marckolsheim (Elsass) sowie der Atomkraftwerke Wyhl (Baden) und Kaiseraugst (Nordschweiz).

Diese Erfolge waren der Auftakt zu einer breiten bundesweiten Anti-AKW-Bewegung, die Kette der Erfolge ging jedoch nicht problemlos weiter. Ich war am Versuch beteiligt, die Erfahrungen aus dem alemannischen ’Dreyecksland’ nach Norddeutschland zu übertragen, um sie für die Verhinderung des AKW Brokdorf zu nutzen. Für die örtliche Bürgerinitiative schrieb ich ein Verhaltensflugblatt nach den Regeln, die in Wyhl für die zweite, erfolgreiche Platzbesetzung ausgearbeitet worden waren. Die erste Besetzung in Brokdorf am 31.10 Oktober 1976 gelang für ein paar Stunden ohne Gewalt von Seiten der 2000 Demonstranten, bis der Platz von der Polizei geräumt wurde. Die Großdemonstration 14 Tage später führte jedoch zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, weil inzwischen beide Seiten aufgerüstet hatten - die Verhältnisse waren in vieler Hinsicht andere als die noch ein Jahr zuvor am Oberrhein. Der Zugang zum Bauplatz war durch Wassergräben und stabile hohe Zäune erschwert, hinter denen Polizei mit Wasserwerfern aufgestellt waren. Ihnen gegenüber standen in erster Linie nicht die Bewohner der Wilstermarsch, sondern Militante aus maoistischen und „autonomen“ Gruppen.

Da die Auseinandersetzung immer gewaltsamer wurde, zogen sich die gewaltfreien Gruppen aus diesem Kampf am Bauzaun zurück, um eigenständige Aktionsformen zu suchen, mit denen sie ihr Anliegen auf authentische Weise ausdrücken konnten, statt zwischen den Fronten aufgerieben zu werden.

Nach den Kämpfen in Brokdorf, Grohnde und Malville wurden andere Kampagnen wie der Stromzahlungsboykott entwickelt (der Stromzähler ist in jeder Wohnung der Brückenkopf der Elektrizitätswirtschaft). Jahrelang blockierten gewaltfreie Gruppen regelmäßig die Zufahrtswege zum AKW Brokdorf, als Mahnwache wird diese Tradition am 6. jeden Monats bis heute fortgeführt.

Eine wichtige Erfahrung , die aus der Ökologie - und Friedensbewegung der USA kam, wurde durch den Mangel an Protest und Widerstand der Anwohner rund um Neubauten von Atomkraftwerken wie Seabrook / New Hampshire oder Diablo Canyon / Kalifornien ausgelöst. Gewaltfreie Gruppen bereiteten sich aus Erfahrungen in der Bürgerrechts- und Friedensbewegung lernend auf umfangreiche Aktionen Zivilen Ungehorsams vor. Systematisches Training in gewaltfreier Aktion, gründliche Analyse als Ausgangspunkt für längerfristige Planung, Bildung von Bezugsgruppen, die über ein Sprecherratsystem selbst in angespannten Konfliktsituationen nach dem Konsensprinzip zu gemeinsamen Entscheidungen kommen, ermöglichten Aktionen Zivilen Ungehorsams mit Tausenden von TeilnehmerInnen, die aus allen Himmelsrichtungen an die Aktionsorte anreisten. Von diesen Erfahrungen in den USA lernten Trainergruppen in Deutschland, eine der ersten dieser Aktionen, bei denen danach vorgegangen wurde, war die vier Wochen dauernde Besetzung der Bohrstelle 1004 bei Gorleben im Mai 1980, die Freie Republik Wendland. Noch umfangreicher wurden diese Methoden von der Friedensbewegung an den Stationierungsorten der Pershing-Raketen Großengstingen, Mutlangen, Hasselbach..) genutzt und weiter entwickelt.

Von dort aus fanden sie ihren Weg in die Protestbewegung gegen die Castor-Transporte und wurden in gewisser Weise Allgemeingut in den deutschen Protestbewegungen,

Weder Initiativen von Bürgern aus der Region, noch radikalere Gruppen aus den Städten wären allein in der Lage, den Machtapparat zu stoppen. Wenn überhaupt, dann gelingt dies nur durch eine bewusst gewollte Zusammenarbeit dieser Bewegungsteile. Gelungene Beispiele wie Larzac und Wyhl zeigen, dass die Pläne von Staat und Militär bzw. Industrie durch populären Widerstand erfolgreich verhindert werden konnten und Polizei bzw. Armee sich buchstäblich zurückzogen, obwohl sie militärisch gesehen zweifellos stärker waren.

In den ländlichen Regionen waren die konservativen Bewohner von Großprojekten aufgeschreckt, die ihre Existenz bedrohten. Ihre traditionellen Politikvertreter vertraten offensichtlich nicht ausreichend ihre Interessen. Die einzige Chance war, sich selbst zu organisieren und Bündnispartner zu suchen. Das Zusammenfinden zu einer Gemeinschaft und der Entschluss für den gewaltfreien Widerstand wurden zum Fundament der Selbstbehauptung.

Von dort aus gehend gelang es, das Verständnis und die Sympathie der überregionalen Öffentlichkeit für das eigene Anliegen zu erzeugen, auch gegen Medien in den Händen ihrer Gegner. Gleichzeitig wurde über Larzac-Komitees bzw. Gorleben-Freundeskreise landesweite Solidaritätsbewegungen aufgebaut, die die gemeinsame Sache dezentral vertraten. Anders als bei Wahlen, wo Mehrheiten für Parteien erzielt werden sollen, gilt es, das Verständnis der öffentlichen Meinung quer zu den politischen Lagern zu gewinnen. Durch Überparteilichkeit und außerparlamentarischen Widerstand sollen die Herzen der Bevölkerung oder zumindest eines relevanten Teiles der öffentlichen Meinung gewonnen werden. Das verlangt, stets die Legitimität des Widerstandes aufzuzeigen und seine friedliche und konstruktive Seite deutlich zu machen.

Es ist von entscheidender Bedeutung, ob und wie weit die Bevölkerung vor Ort fähig und bereit ist, selbst Aktionen Zivilen Ungehorsams durchzuführen. Zuerst hatten die unmittelbar Betroffenen ihre eigene Angst vor dem öffentlichen Überschreiten von Gesetzen zu überwinden, Beim Betreten dieses „Neulandes“ half ihnen, dass sie sich den Erfahrungen gewaltfreier Gruppen öffneten. So lernten sie, offensiv zu handeln und ihr Anliegen, wenn nötig auch vor Gericht, öffentlich darzustellen. Der Vergleich mit anders gelagerten Fällen in derselben Zeit, z.B. Malville oder Brokdorf, zeigt, dass dort, wo die Einheit vor Ort und der Entschluss zu gewaltfreiem Widerstand fehlte oder nur schwach ausgeprägt war, auswärtige Gruppen wie Polizei,” Spontis“, Maoisten, usw. sich über ihre Köpfe hinweg gewaltsam auseinandersetzten und damit das Wachsen des einheimischen Widerstands noch mehr erschwerten. Dieses gewaltsame Kräftemessen lenkte von den eigentlichen Konfliktursachen ab und erleichterte es, der Bevölkerung gefährliche Anlagen aufzuzwingen. Statt politischer Emanzipation breitete sich bei den unmittelbar Betroffenen das Gefühl von Ohnmacht aus.

Warum ging die Auseinandersetzung um den Schnellen Brüter SuperPhenix in Malville so katastrophal aus?

Das gewaltsame Ende des Versuches, den Bauplatz zu besetzen, war wohl nicht der einzige Grund dafür, der Tod eines Demonstranten und hunderte schwer Verletzter auf beiden Seiten trugen aber sicher auch dazu bei, dass die Anti-AKW-Bewegung in Frankreich einen entscheidenden Rückschlag erlitt.

Auf dem Larzac hieß die Frage der selbstbewusst und aktiv gewordenen Landbevölkerung: “Wie weit müssen wir noch gehen?”. In vielen Fällen stellt sich für Unterstützer von ausserhalb, die mit den Menschen vor Ort zusammenarbeiten wollen, die Frage: “Wie lang müssen oder können wir noch warten?”

Die Ungeduld der von außerhalb kommenden politischen Gruppen ist verständlich, weil derartige industrielle oder militärische Anlagen im Ernstfall weit mehr Menschen bedrohen als “nur” die unmittelbaren Anwohner. Es geht also viel mehr Menschen an als es die legalen Mitspracheregeln vorsehen, in existentiellen Fragen wie den Gefahren durch Massenvernichtungsmittel geht es uns Alle an.

Dennoch ist es politisch unersetzbar wichtig, dass die Bevölkerung vor Ort aufwacht und sich ausgehend von ihrem Alltagsrahmen radikaleren Aktionsformen zuwendet. Zu Beginn des Konfliktes um die Erweiterung des Truppenübungsplatzes auf dem südfranzösischen Larzac hatten Gruppen von ausserhalb versucht, z.B. durch Anschläge auf Militär-Hubschrauber und Parteibüros der Gaullisten eine „revolutionäre Stimmung“ zu erzeugen. Der Erfolg war, dass die Bauern solche stellvertretenden Aktionen deutlich ablehnten, aber stattdessen begannen, darüber nachzudenken, welche Mittel ihren gewohnten Vorstellungen besser entsprachen.

Wenn ich im Laufe der Jahre auf Veranstaltungen die Stärke des erfolgreichen Larzac - Widerstandes darstellte, kam oft die Reaktion: “Toll, was da in Frankreich geschah, aber bei uns ist so etwas nicht vorstellbar…”. Es ist klar, dass die konkreten Verhältnisse in jedem einzelnen Fall verschieden sind, es kann nicht um reine Nachahmung gehen. Dennoch können erfolgreiche Beispiele anregen, darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten für kreativen Widerstand die jeweilige Situation bieten könnte.

Entscheidend für den Erfolg auf dem Larzac war u.a. die Einsicht, dass die umstrittene Fläche zu groß ist, um vollständig und ganzjährig besetzt werden zu können, auch nicht von Einheimischen und anreisenden Sympathisanten zusammen. Selbst Demonstrationen mit über 100 000 Beteiligten dauerten nicht länger als maximal drei Tage in der Ferienzeit. Aber es wurden im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn kontinuierlich Grenzen überschritten. Systematisch wurden Höfe besetzt und Land unter den Pflug genommen, das bereits von der Armee aufgekauft worden war, wurden entgegen ausdrücklicher Verbote Häuser und Wasserleitungen gebaut usw. Dies waren gleichzeitig Aktionen des Widerstands und der konstruktiven Alternativen. Vermittelt durch vielfältige Aktionen errang die Botschaft “Landwirtschaft fördert Leben. Armee bringt den Tod” die Sympathie bei der landesweiten Bevölkerung. Das konnte nur gelingen, weil die ursprünglich konservative Landbevölkerung vor Ort und politisch engagierte Gruppen aufeinander zugegangen waren. Schließlich traute sich die Armee nicht einmal, einen illegal neu gebauten Schafstall abzureißen, der den geplanten Schießübungen direkt im Wege stand.

Ich könnte ausführlich von destruktiven Folgen gewaltsamer Auseinandersetzungen mit der Polizei berichten. Z. B.von der Rostocker Auftaktdemonstration zu den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 oder von der Europabrücke während der 60-Jahr-Feier der NATO in Straßburg 2009.

Ob Provokation oder magnetische Anziehungskraft durch die Machtpräsentation der Gegenseite,- letztlich hat beides dieselbe fatale Wirkung auf die Öffentlichkeit, weil die Gewalt zum ausschließlichen Thema und damit das jeweilige ursächliche Anliegen verdeckt wird. Beide Kampfparteien sehen das Unrecht nur auf der Gegenseite und rechtfertigen damit die eigenen Handlungen. Damit ver- oder behindern beide Seiten bei den Betroffenen den Bewusstseinsprozess zu lernen, ihre Angelegenheiten in die eigene Hand zu nehmen. Gegenseitig wird der Vorwand geliefert, sich auf noch mehr Gewaltanwendung vorzubereiten.

Gewalt macht blind, ihr autoritärer Charakter steht in totalem Gegensatz zum demokratisch-gewaltfreien Ziel der Selbstbestimmung. Eine Bäuerin auf dem Larzac beschrieb ihre eigene Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit den “Ordnungshütern”: Wir mussten zuerst den “flic” (Polizist) in uns selbst überwinden, bevor wir stark und unabhängig werden konnten”.

Es gibt positive und negative Beispiele für Lernbereitschaft beim Aufeinandertreffen verschiedener Auffassungen über Gewalt in widerständigen Basisbewegungen.
Nach den Straßenkämpfen in Rostock unmittelbar vor den Aktionen in Heiligendamm konnte sich kaum jemand das folgende Gelingen von so groß angelegten Aktionen wie die mehrtägigen Blockaden des Gebietes durch bis zu 18.000 Menschen vorstellen.
Die Praxis gewaltfreier Aktionsformen wie z.B. Sitzblockaden samt Trainings und Bezugsgruppen-System hat sich seit den Anfängen imWiderstand gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen verbreitet und wurde seit der gewaltfreien Massenblockade des Castor-Transportes nach Gorleben 1997 endgültig zum Allgemeingut in der Friedens- und Ökologiebewegung. Jene Blockade von 9.000 Menschen in Dannenberg entstand aufgrund schlechter Erfahrungen, in den Jahren zuvor gab es keine Kerngruppe, die sich offen für Aktionen Zivilen Ungehorsam ausgesprochen hätte, im Gegenteil, alle Aktionsformen sollte gleichberechtigt nebeneinander her laufen. Für Gruppen, die Gewalt gegenüber der Polizei planen oder zumindest nicht ausschließen ist es von Vorteil, wenn sich viele Menschen um sie herum aufhalten.

Gewaltfreie Aktionen jedoch sind unmöglich, wenn in unmittelbarer Nähe Menschen zum Beispiel Steine werfen. Im ersten Fall wird bewusst damit gerechnet oder zumindest in Kauf genommen, dass die Repression auf alle Anwesenden zurückfällt und bisher noch Zögernde radikalisiert, dagegen nehmen gewaltfreie Akteure das Risiko der Repression bewusst auf sich und laden es nicht auf Andere. Daher war die Konsequenz gewaltfreier Gruppen nach dem Chaos der Aktionen 1995 und 1996 nicht, Gewalt anwendende Gruppen zu denunzieren, sondern sich im wörtlichen Sinn zu distanzieren, d.h. bewusst auf räumlichen Abstand zu gehen.

Der Erfolg der Kampagne X-tausendmal quer im März 1997, auch gemessen an Teilnehmerzahlen und der Dauer der Blockade drückte sich auch in der freundlichen Aufnahme durch die regionale Öffentlichkeit aus. Er ließ sich aber in diesem Maße später nicht wiederholen oder steigern - bis zu den Blockaden in Heiligendamm, zu denen die Kampagne X-tausendmal quer wesentlich beitrug, obwohl ihr eigener Kern stark geschrumpft war.

Dieser Erfolg führte aber auch zu jahrelangen erbitterten Spannungen mit anderen Kräften im Castor-Widerstand, bis hin zur Unterstellung, das demonstrativ gewaltfreie Verhalten sei ein Angebot an die Polizei, zwischen “guten” und “bösen” Demonstranten zu unterscheiden, die einen mit Samthandschuhen anzufassen und die anderen härterer Repression auszusetzen. Mit dem Vorwurf der Spaltung wurde starker Druck auf gewaltfreie Gruppen und „herausragende“ Einzelpersonen ausgeübt. Berechtigtes Festhalten an der Haltung der Gewaltfreiheit wurde als Distanzierung bezeichnet, was in die Nähe von Denunziation gesetzt wurde. Aber jede Seite ist in erster Linie für das eigene Verhalten verantwortlich. Warum sollte ich mich mit Verhalten solidarisieren, das ich ablehne und bewusst vermeide? Erzwungene Solidarität erinnert an die Zeit des Kalten Krieges, wo von beiden Seiten verhindert wurde, dass eine eigenständige und unabhängige Alternative, eine Dritte Kraft entstünde. Der Anti-Kommunismus wurde mit dem Anti-Anti-Kommunismus beantwortet: Wer sich nicht kritiklos für eine Seite entscheidet, muss zur entgegengesetzten Seite gehören...

Zu oft habe ich erlebt, dass nach langen Verhandlungen über das Verhalten bei gemeinsamen Aktionen, als es ernst wurde, doch Steine geworfen wurden oder in anderer aggressiver Weise aus der Menge der Demonstranten heraus agiert wurde. Ich möchte nicht dass Menschen, die ich zu gewaltfreien Aktionen und zu Zivilem Ungehorsam ermutige, ungewollt in einen Gewaltaustausch zu geraten. Wenn verlangt wird, auf die öffentliche Benennung unserer zentralen Prinzipien wie Gewaltfreiheit und Transparenz zu verzichten, ist die Grenze der Bündnismöglichkeit erreicht. Das schließt nicht aus, sich so weit wie möglich um Bündnisse zu bemühen, aber nicht zum Preis,das eigene Selbstverständnis zu verleugnen.

Inzwischen haben manche autonome Gruppen faktisch Methoden der gewaltfreien direkten Aktion und der Kampagnen Zivilen Ungehorsams übernommen – sie vermeiden dabei zentrale Begriffe wie gewaltfrei zu verwenden. Es geht nicht allein um Worte, aber es kann Wesentliches verloren gehen, wenn nur die Methode benutzt wird, und die dahinter stehende Grundüberzeugung verwässert oder vergessen wird.

Die gewaltfreien Massenblockaden im Wendland wie in Heiligendamm konnten vor allem deshalb gelingen, weil die DemonstrantInnen nicht stur gegen Polizeisperren anrannten, sondern flexibel und beharrlich dort durchströmten, wo sich Lücken in den Polizei-Ketten ergaben. Der Widerstand tut gut daran, im Weg liegende Steine wie Wasser zu umspülen, statt zu versuchen, selbst so hart zu werden wie der Gegner.

Zwischen Legalismus und Gegengewalt

In Deutschland verwenden Politiker und angepasste Medien seit Jahren das Wort gewaltfrei mit dem Ziel, ihre Deutung durchzusetzen, wonach “gewaltfrei” mit friedlich und gesetzestreu gleichgesetzt werden Der Staat will nicht nur das Gewaltmonopol behalten, seine Politik wird auch noch immer öfter als “gewaltfrei” bezeichnet. Ziviler Ungehorsam soll tendenziell kriminalisiert werden, um Menschen davon abzuhalten, ihn anzuwenden. Es erinnert an “1984” von George Orwell, wenn zum Beispiel Mecklenburg Vorpommern “Gewaltfreiheit” zum Staatsziel erklärt. Da wird verständlich, weshalb Kritiker der Gewalt beinhaltenden wie exportierenden Staatspolitik gegenüber diesem Begriff skeptisch sind.

Das sprachlich begriffliche Problem besteht, seitdem in den 1920er Jahren versucht wurde, die Philosophie und Praxis M. K. Gandhis in mitteleuropäische Sprachen zu übersetzen. Ob Gewaltlosigkeit oder Gewaltfreiheit, ob nonviolence oder non-violence - immer schwingt die Abwesenheit von etwas Starkem, also Schwäche mit, die Begriff drücken im Gegensatz zum indischen satyagraha nichts Positives und Kraftvolles aus, transportieren nichts vom sozialen und revolutionären Anspruch.

Die Kraft des gewaltfreien Widerstandes kann durch Praxis weit überzeugender aufgezeigt werden als viele Worte ohne Taten.

Längst nicht alle Bauern auf dem Larzac waren prinzipiell gewaltfrei, für die breite Unterstützerbewegung gilt dies vermutlich noch mehr. Dennoch war die Vorgabe der „103“ ausschlaggebend, die sich gegenseitig versprachen, gemeinsam Widerstand zu leisten und dies mit gewaltfreien Mitteln, Das verlangten sie auch von der Solidaritätsbewegung, zumindest solange diese Mittel erfolgreich waren. Und sie blieben bis zum Schluss erfolgreich gegenüber den stärksten Kräften des Staates gerade durch diese Klarheit und Entschiedenheit .

Was bedeutet das alles für die nächsten Kampagnen und Aktionen?

Besonders wichtig finde ich, die gewaltfreie Position klar und unmissverständlich darzustellen - ohne verurteilenden Dogmatismus. Eine kontinuierliche Bemühung, diese Haltung über die eigenen Kreise hinaus zu verbreiten und sie gleichzeitig immer wieder zu vertiefen.

Offenes Visier: Wir haben nichts zu verbergen, wollen bewusst weder Konspiration noch Vermummung. Wir stehen zu unseren Aktionen, wir wollen überzeugen und uns notfalls mit unserer ganzen Person gegen die organisierte Gewalt stellen

Ohne Illusion: Von seinem Gewaltpotential aus gesehen, ist die Staatsmacht eindeutig stärker als ihre zivilen Kritiker. Unser Interesse kann nur sein, die Gegenseite zu “entwaffnen”. Regierungen haben immer die Tendenz, Infragestellungen ihrer Machtverhältnisse in dem Maße zu unterbinden, als diese von der Kritik bedroht werden. Ziviler Ungehorsam ist im Prinzip herausfordernd, provoziert und dramatisiert latente Konflikte, stellt wichtige Teile des herrschenden und von der Legalität meist gedeckten Gefüges als gewaltförmig in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Es dauerte oft lange und kostete große Opfer der Betroffenen, bis legitime Anliegen wie Streikrecht oder Kriegsdienstverweigerung anerkannt und mit legalisiert wurden. Je mehr Elemente des Gesellschaftssystems infrage gestellt werden, umso differenzierter muss auch unser Bemühen werden, in jedem einzelnen Bereich das Unrecht aufzeigen und alternative Regeln des Zusammenlebens zu finden - auf dem Weg zu einer an Gewalt ärmeren (Welt-) Gesellschaft.

Die gewaltfreie Gesellschaftsveränderung, für die wir eintreten, begreift die vielfältigen, Gewalt mit sich bringenden Probleme der Gesellschaft als Teile eines Gesamtsystems und nicht als zufällige Schönheitsfehler. Kriegsgefahr ist z. B. nicht allein durch Abschaffung der Wehrpflicht zu bannen usw. Es ist wichtig, punktgenaue Kampagnen zu organisieren, aber gleichzeitig die Zusammenhänge mit anderen Konflikten zu sehen und die gegenseitige Unterstützung der Kampagnen und Bewegungen zu fördern.

Es wird keine gewaltfreie Gesellschaft ohne Gerechtigkeit und Basisdemokratie geben, das heißt: Gewaltfreiheit als Ziel verlangt den Abbau aller gewalthaltigen Herrschaftsmittel und Strukturen. Sie richtet sich zwangsläufig gegen wesentliche Elemente des Staates wie Militär, Rüstungsproduktion, gegen den Missbrauch der Polizei zum Schutz der Privilegien Weniger. Es kann nicht unser Interesse sein, dem Staat den Vorwand zu liefern, sich noch mehr hochzurüsten, weil er stets vom Schlimmsten ausgehen “muss”, um sich zu schützen. Wenn klar ist, dass wir uns gegen massive gesellschaftliche oder industrielle Gewalt wenden und dabei bewusst keine Gegengewalt ausüben, haben wir bessere Chancen Menschen zu überzeugen und viele zu Widerstand (oder zum Verständnis und zur Sympathie für den Widerstand Anderer) zu bewegen. Dann können Situationen herbei geführt werden, wo auch der stärkste Staat einsehen muss, dass ungerechte Ziele politisch nicht durchsetzbar sind und dass verstärkte Repression sich gegen ihn selbst auswirkt.

Unsere Aktionen und Kampagnen sollten stets als Lernfelder für weitergehende Veränderungen der Gesellschaft dienen. Auch in dieser Hinsicht ist es wichtig, dass gewaltfreien Aktionsgruppen sich stets ernsthaft um Austausch und Gesprächskontakt mit den “Einheimischen” bemühen, selbst wenn dies mühsamer ist, als sich auf die vertrauten Milieus Gleichgesinnter und Gleichaltriger zu beschränken.

Welche Bündnisse entsprechen unseren Zielen und haben gleichzeitig Chancen zum Erfolg?

Gewaltfreiheit fordert die Übereinstimmung von Zielen und verwendeten Mitteln, über die einzelne Kampagne hinaus geht es um basisdemokratische Veränderung der Gesellschaft. Das Ziel ist, möglichst viele Menschen „anzustecken“ Zur „Mobilisierung“ steht die ganze Bandbreite der gewaltfreien Aktion von der Aufklärung und dem Protest über die direkte Aktion bis zum Zivilen Ungehorsam zur Verfügung.

Es ist nicht sinnvoll, gleich mit den höchsten Eskalationsstufen zu beginnen, niederschwellige Aktionsformen sollten nicht gering geschätzt werden. Menschen steigern ihre Bereitschaft zu Einsatz und Risiko allmählich, wenn sie selbst bestimmen können, welche Erfahrungen sie im Lernfeld der Konflikte freiwillig für sich zulassen können und wollen. Am Anfang steht meist, dass sie durch Bedrohung von außen aus ihrer gewohnten Situation gerissen werden und in existentieller Betroffenheit begreifen, dass sie sich nicht weiter auf Stellvertreter verlassen dürfen, die für sie handeln..

Bei der Zusammenarbeit mit Menschen aus durchschnittlichen Bevölkerungsschichten sollte nicht vorausgesetzt werden, dass alle die bestehende Gesellschaftsordnung als Ganzes ablehnen. In gemeinsamen Handeln und im kontinuierlichen Dialog kann sich aus der Teilnahme an der jeweiligen Ein-Punkt-Bewegung das Bewusstsein zur Einsicht in das Zusammenhängen verschiedener Probleme - und damit auch der Widerstandsbewegungen entwickeln und erweitern. Wir dürfen das Potential an politischer Kraft nicht geringschätzen, das aus den Alltagszusammenhängen der „normalen Leute“ erwachsen kann.

Jede politische oder polizeiliche Taktik muss hinterherhinken, wenn sich eine lokale oder regionale Gemeinschaft einmal entschlossen hat, die gemeinsamen Kräfte mit Phantasie und Humor für gewaltfreien Widerstand zu bündeln. Keiner negativen Propaganda wird es auf Dauer gelingen, in der Öffentlichkeit das positive Bild eines solchen Widerstands zu entstellen.
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Aus meiner Sicht stellt sich die Frage, was uns wichtiger ist:
 den langwierigen Versuch zu unternehmen, „normale“ Menschen in der Mehrheitsgesellschaft von unserer Kritik an der auf struktureller Gewalt basierenden Gesellschaft zu überzeugen und sie bei ihrer Entwicklung in Richtung des gewaltfreien Widerstand zu begleiten,
 oder lieber mit Menschen zusammenzuarbeiten, die das Gesellschaftssystem radikal ablehnen und diese fundamentale Kritik auch von ihren Bündnispartnern fordern, gleichzeitig aber deutlich machen, dass sie nicht bereit sind, Rücksicht auf andere Meinungen bezüglich der Ziele und der Vorgehensweise zu nehmen.

Ich plädiere dafür, sich für die erstgenannte breitere Bündnisform zu entscheiden. Unsere Aktionen und die Art, uns zu organisieren sollten möglichst basisnah sein, das heißt, wir sollten uns immer bemühen. uch Mitwirkungsmöglichkeiten für berufstätige und ältere Menschen anzubieten - die nicht allein auf die Lebensbedingungen junger, familiär und beruflich weniger stark gebundener Menschen zugeschnitten sind.

Wolfgang Hertle

(Vorgetragen bei einem workshop der Europäischen Sommer-Universität Sozialer Bewegungen - organisiert von attac - in Paris am 21.August 2014)

Aktuelle Informationen über die Proteste in Büchel in den vergangenen Jahren und über die Planungen für 2019: https://www.atomwaffenfrei.de/

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