Gedanken zum Widerstandsrecht
On-line gesetzt am 8. März 2013

vorgetragen aus Anlass der Blockade des Tores zum Erkundungsbergwerk Gorleben als Teil der Jahrestagung des Versöhnungsbundes am 19.05.2012 und im Rahmen der
Kampagne gorleben365 (Nachschrift)

Erstmals stehe ich hier vor dem Tor zur geplanten Endlagerstätte für Atommüll in Gorleben und bin beeindruckt von der lebendigen, schon Jahrzehnte dauernden Widerstandstradition an diesem Ort.
Was die Praxis des Widerstandes betrifft, komme ich als Lernender.
Was ich von meinem Wissen her beitragen kann, sind nur ein paar Gedanken zur rechtlichen Seite des Widerstands, dem Widerstandsrecht.

Die Inhaber der staatlichen Gewalt und die Justiz haben mit dem Widerstandsrecht ihre eigenen Probleme: der Widerstand gegen Unrechtsstaaten aus der eigenen Vergangenheit und anderswo auch in der Gegenwart wird gerne als Recht anerkannt, nicht aber ein Widerstandsrecht im Rechtsstaat.

Erst wenn dieser ganz beseitigt werden soll, haben nach Art.20 Abs.4 GG „alle Deutschen das Recht zum Widerstand“, aber eben nicht vorher.

In der Einleitung zu einem umfangreichen Werk zum „Widerstandsrecht“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt aus dem Jahr 1972 schreibt Arthur Kaufmann, ein damals bedeutender Rechtsphilosoph und Strafrechtswissenschaftler:

„das Denkmodell: hier Rechtsstaat – dort Tyrannis ist falsch,
zumindest eine unzulässige Vereinfachung. Die Grenzen zwischen
Rechtsstaat und Unrechtsstaat sind fließend. Es gibt keinen Staat,
der der Gefahr einer Perversion zum Unrechtsstaat entrückt wäre.

Die Perversion beginnt bereits da, wo man das Recht und den
Rechtsstaat als etwas Gegebenes ansieht, das man hat, als einen
Zustand, den es zu erhalten gilt, als ein erreichtes Ziel, an dem man sich ausruhen kann… Das Wesen des Widerstandsrechts … ist nicht…das letzte Mittel gegen einen bereits völlig pervertierten Staat, seine erste Funktion ist vielmehr, schon den Anfängen der Perversion zu wehren. Der beharrliche Widerstand gegen den bestehenden Zustand ist notwendig, damit Recht und Rechtsstaat immer und immer wieder regeneriert werden… so verstanden, ist der Widerstand ein Wesenselement des Rechts…

Widerstand in diesem Sinne ist keine Sache der Gewalt, … Widerstand ist eine Sache des Geistes…

Misstrauen gegenüber den Mächtigen, Mut zu offener Kritik, Nein sagen zum Unrecht, auch und gerade wenn es „von oben“ kommt oder die „herrschende Meinung“ ist…

Widerstand hat deshalb auch nichts mit Revolution zu tun…
Widerstand dagegen ist ständige Evolution.“

Nimmt man dies ernst, so wird deutlich: die vorhandenen Gesetze, auch im Rechtsstaat, sind nicht automatisch auch Recht, ebenso wie das Recht auch nicht identisch ist mit der jeweils herrschenden Macht.

Seit Beginn unserer Rechtsgeschichte, also seit der Antike, hatte das Recht vielmehr immer die Funktion, sich der Macht entgegen zu stellen in Gestalt ohnmächtiger Menschen, etwa der griechischen Antigone oder den jüdischen Propheten.

Auch im germanischen Recht stand der Herrscher nicht über, sondern unter dem Recht und die Gefolgsleute der Könige fühlten sich nicht als Untertanen sondern nahmen gegen Übergriffe der Herrscher jeweils ein Widerstandsrecht in Anspruch. So wurden bei den christlich gewordenen Westgoten im 6.Jahrhundert von 35 Königen nicht weniger als 17 nicht nur abgesetzt, sondern gleich auch getötet.

Erst im Zeitalter des Absolutismus ab dem 17.Jahrhundert fühlten sich die Herrscher als über dem Recht stehend. Das passte dann zum sogenannten Rechtspositivismus des 19. und 20. Jahrhunderts, als zwischen Gesetz und Recht kein Unterschied mehr gesehen wurde bis hin zu den schrecklichen Auswüchsen des Nationalsozialismus und einem Rechtsdenken, das bis heute noch in der Justiz dominant ist.

Das Widerstandsrecht bedarf aber nicht der Anerkennung durch den Staat; es ist älter als der Staat.

Andererseits dürfen diejenigen, die solch einen Widerstand gegen die staatliche Obrigkeit praktizieren, nicht auf Anerkennung und Freispruch, oftmals auch nicht auf Nachsicht hoffen.

Auch im Rechtsstaat kann es manchmal sehr lange dauern, bis Gesetzgebung und Justiz früheres Unrecht einsehen und im Nachhinein denen Recht geben, die gegen das Unrecht aufgestanden sind.

Gegen eine offizielle Anerkennung eines Widerstandsrechts stehen weithin auch die Ängste vor einer dann eintretenden Auflösung jeder Ordnung.

In dem bereits genannten Werk über das Widerstandsrecht versucht schon ein Autor im Jahr 1947 solche Bedenken zu zerstreuen. Er schreibt: „die große Mehrheit der Deutschen ist nach Denkart und Erziehung so veranlagt, dass bei ihnen eine übermäßige Beanspruchung des Widerstandsrechts nicht zu befürchten ist.“

Auch wenn diese Beobachtung aus dem Jahr 1947 heute noch stimmen sollte, wünsche ich uns, dass wir als Minderheiten, kleine Gruppen oder gar Einzelne nicht vor dem Unrecht zurückschrecken und resignieren, sondern beharrlich widerstehen und uns dabei im Recht wissen.

Ullrich Hahn

Gorleben, den 17.05.2012