Renate Wanie
Ein „neuer Geist in der Protestkultur“ und sein Verhältnis zur Gewaltfreien Aktion Teil II
Teil 2
On-line gesetzt am 14. Februar 2013
zuletzt geändert am 16. Februar 2013

Neue Tendenzen bei Trainings

Wie bekannt, reicht allein der Wunsch, gewaltfrei handeln zu wollen, nicht aus. Man und frau muss auch über entsprechende Verhaltensweisen verfügen. Gewaltfrei handeln will geübt sein. Davon haben sich auch viele Akteure der Revolution 2011 in Ägypten überzeugen lassen, lange vor den Großdemonstrationen an zahlreichen Trainings in Gewaltfreier Aktion teilgenommen und trotz staatlichen Terrors weitgehend an der Gewaltlosigkeit festgehalten.
In Deutschland sind Aktionstrainings im Vergleich zu den 1970er und 80er Jahren kürzer geworden. Mit einer gewissen Begeisterung sind Aktionstrainings inzwischen auch im postautonomen Spektrum übernommen worden. Bis 2007 gab es innerhalb des postautonomen Spektrums wenig bis keine Erfahrungen mit Aktionstrainings „oder sogar große Ablehnung, u.a. weil sie mit Gewaltfreiheits-Dogmatismus verbunden wurden“. (Amann 2008, S. 63) Konkrete Erfahrungen mit Trainings bei der Aktionsvorbereitung lassen den Aktionstrainer Marc Amann nach dem Massenprotesten in Heiligendamm zu der Erkenntnis kommen: „Kollektive Handlungsfähigkeit wird sich nicht von alleine verbreiten oder nur theoretisch herbeireden lassen. (...) Die G8-Mobilisierung hat gezeigt, wie wertvoll Aktionstrainings sind. In Zukunft wird es darauf ankommen, Aktionstrainings verstärkt auszubauen und auf unterschiedliche Situationen anzuwenden.“ (ebd.) Mit der Gründung des 2008 entstandenen Trainingskollektiv „skills for action“ ist das den TrainerInnen aus dem „links, undogmatisch und bewegungsorientierten“ Spektrum auch gelungen. Auch TrainerInnen aus dem gewaltfreien Spektrum sind dort aktiv.
Folgende aktuelle Trainingsformen wurden in meinen Interviews mit erfahrenen TrainerInnen explizit genannt:

• Kurztrainings zur Vorbereitung von Massenblockaden: Tendenz zunehmend, seit 2007 in Vorbereitung des Protestes gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm, Stundentrainings, zeitweise bis zu vier am Tag

• Tagestrainings

• öffentliche Trainings mit demonstrativem Charakter, vor allem für die Medien („embedded journalists“), wie etwa 2009 vor dem Protest gegen den 60. Jahrestag der NATO in Strasbourg. Zeitweise hatten diese in der Öffentlichkeit vorgeführten Trainings auch repressive Maßnahmen zur Folge.

• Aktionstrainings ohne konkrete Aktionsplanung, wie etwa im Stuttgart 21 – Widerstand

• Train-the-Trainers – (Kurz)Ausbildungen

Besonders verbreitet sind Kurztrainings mit Teilnehmenden, die keiner festen Gruppe angehören. Eingeübt werden vor allem die inzwischen gängigen Sitzblockaden und das „Sich-Wegtragen-Lassen“. Das Einüben der „Polizeiketten durchfließen“ ist besonders im postautonomen Spektrum gefragt. Auch die Methode „Schottern“ wird trainiert, teilweise gemeinsam mit AktivistInnen aus dem gewaltfreien und postautonomen Spektrum. Die Umsetzung in die Praxis erfolgt i.d.R. getrennt, spielen doch die Verkleidung mit Isomatten und Vermummung keine unbedeutende Rolle.

Nach Aussagen von TrainerInnen etwa aus Jena können Trainingsangebote zugleich zur Mobilisierung beitragen. Die Basis für die spektrenübergreifende Aktion in einem Bündnis ist der gemeinsam erarbeitete Aktionskonsens. In der praktischen Umsetzung der Trainings sei eigentlich kein Unterschied zwischen den gewaltfreien Trainings und den Trainings der Interventionistischen Linken (IL) zu erkennen – bis auf die fehlende Erklärung zur Gewaltfreiheit, dialogische Übungen und das Thematisieren von Visionen, wie etwa alternative Gesellschaftsformen. Diese Themen würden in Seminare gehören. Mitmachen und dabei sein sei angesagt!

Was aktuell von den traditionellen Trainings aus dem gewaltfreien Spektum geblieben ist, das sind Trainingseinheiten wie Bezugsgruppen bilden, die für die eigene Sicherheit als wichtig erkannt wurden, auch beim Trainingskollektiv „skills for action“. Ebenso die Entscheidungsfindung im Konsens, Moderation und der SprecherInnen-Rat in einer Variante. Rechtshilfe als Beratung ist ein spektrenübergreifendes Anliegen.

Zusammenfassung und Resumee

In seinem Artikel „Jenseits der Gewaltdebatte“ („Chef, es sind zu viele…“), in dem er den Erfolg der Blockade Block G8 bewertet, begründet Christoph Kleine, weshalb in den Erklärungen der „ideologisch aufgeladene Begriff ‚gewaltfrei’ nicht verwendet“ wurde, obwohl viele Konzepte und Erfahrungen aus der gewaltfreien Aktionstradition in die Aktionen eingeflossen seien. (2008, S. 40) Die Kampagne Block G8 sei „gerade der Beleg dafür, wie viel Kreativität und Entschlossenheit freigesetzt werden könne, wenn die lähmenden Debatten um Gewalt und Gewaltfreiheit beiseite geschoben werden und AktivistInnen aus verschiedenen Spektren anfangen, praktisch zusammenzuarbeiten“. (ebd.)

Gewalfreiheit als Konzept oder Prinzip wird abgelehnt, weil sie als harmlos, christlich und ideologisch aufgeladen, die eigene Handlungsfreiheit einschränkend gesehen wird. Gewaltfreiheit wird überdies mit dem Anspruch gleichgesetzt, in allen Lebensbereichen gewaltfrei sein zu müssen.

Dazu kommt, dass in den genannten strategisch-taktischen Bewegungskontexten der undogmatischen Linken bzw. des postautonomen Spektrums das Denken vorherrschend ist, mit Gewaltfreiheit könne nicht eskaliert werden. Ganz offensichtlich sind die Eskalationsstufen der Gewaltfreien Aktion des Friedens- und Konfliktforschers Theodor Ebert nicht bekannt.

Verbreitet ist außerdem der Vorwurf, nicht nur mit der Kritik an der Gewalt in den eigenen Reihen die Spaltung der Bewegung vorantreiben zu wollen, sondern auch beim Bestehen auf Gewaltfreiheit. Diese Position kann ich nicht teilen. Ich halte dagegen: Steine werfen spaltet die Friedens- und Antikriegsbewegung. Wer Gewalt zulässt, zerstört die Glaubwürdigkeit der Bewegung und erleichtert möglicherweise Provokateuren der Polizei ihr friedloses Handwerk zu betreiben.

Ziviler Ungehorsam ist „in“. Denn er zeigt Entschlossenheit, übt einen gewissen Druck aus, ist öffentlichkeitswirksam und erreicht manchmal auch unmittelbar sein Ziel, z.B. die Verhinderung einer Nazi-Demonstration oder die Durchfahrt eines Castor-Tranportes. Eine durchaus positive Entwicklung. Andererseits ist zu fragen, was es bedeutet, wenn Formen Gewaltfreier Aktion wie die Blockade ohne den Hintergrund der Gewaltfreiheit durchgeführt werden? Geht dabei auch etwas verloren?

In einer nach Heiligendamm veröffentlichten abschließenden Auswertung im Jahr 2008 appelliert Christoph Kleine von der IL an künftige Aktionen, die „keine ideologisch-strategische, sondern eine praktisch-taktische Frage“ sein sollten. Dabei gehe es nicht um die radikalste aller Aktionsformen, sondern um diejenige, „die am besten geeignet ist, mit vielen Menschen gemeinsam einen bewussten Schritt vom Protest zum Widerstand zu gehen“. (Kleine 2008, S. 40) Dazu gehören Selbstermächtigung und der „berechtigte Regelübertritt“, z.B. mit Sitzblockaden. Darin spiegele sich, „dass der Kapitalismus nicht im Rahmen der Spielregeln des bürgerlichen Staates“ zu überwinden sein wird, sondern nur durch den Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht. Doch diese theoretische Erkenntnis könne nicht nur theoretisch existieren, sondern verfestige sich „in der gemeinsamen, grenzüberschreitenden Aktion“ und in der praktischen Umsetzung wie 2007 mit dem Konzept Block G8.

Hier werden gewisse Parallelen sichtbar. Auch die AkteurInnen der Gewaltfreie Aktion greifen in gesellschaftliche Konflikte ein. Formen Gewaltfreier Aktion sind Mittel, um Gegenmacht zu gewinnen und im politischen Raum zu handeln. Beispiel ist die Widerstandsbewegung in Heiligendamm 2007. Mit der Gewaltfreien Aktion erweitern wir unsere politischen Handlungsräume. Dass dabei auf Gewalt verzichtet wird, bedeutet nicht, dass keine Macht- bzw. Druckmittel eingesetzt werden. Gewaltfreie Aktionen artikulieren nicht nur Protest oder konstruktive Alternativen, sie greifen kämpferisch und direkt ins bestehende soziale System ein. Z.B. können Streiks und gut vorbereitete Boykotts starke Mittel sein, um legitime soziale oder menschenrechtliche Interessen durchzusetzen (z.B. bei der Versenkung der Ölplattform des Konzerns Shell). Die Verbesserung sozialer Lebensbedingungen braucht Zeit, oftmals viel Zeit, wie es gerade in Ägypten beobachtet werden kann.

Doch können mit spektakulären Einzelaktionen gesellschaftliche Konflikte dramatisiert und Veränderung erreicht werden? Bekommt der zivile Ungehorsam ohne Einbindung in ein Konzept bzw. Kampagne einen inflationären Charakter? Praktisch-taktische, möglichst auch radikale Aktionsformen wie der „legitime Regelbruch“ der Massenblockade und wiederholt eingesetzt, führen nicht unmittelbar zu sozialer oder gesellschaftlicher Veränderung. Ziviler Ungehorsam ist nach gewaltfreiem Verständnis dann legitim, wenn zur Abwendung des Unrechts bereits andere legale Mittel ausgeschöpft wurden und sich als wirkungslos erwiesen haben. Als geradezu beispielhaft ist die aktuelle Kampagne „Legt den Leo an die Kette!“ zu nennen.

Kampagnenförmig über einen bestimmten Zeitraum eingebunden wurden unterschiedliche Aktivitäten (Appelle, Einzelaktionen) schließlich mit einer Sitzblockade, eine Aktion zivilen Ungehorsams, zugespitzt und das Thema Rüstungsexporte am Beispiel des Rüstungsproduzenten „Rheinmetall“ öffentlich eskaliert.

Im Unterschied zu den aktuell in Mode gekommenen Aktionen Zivilen Ungehorsams bietet das Konzept der Gewaltfreien Aktion eine breite Palette vielfältiger Formen sozialen Drucks an. Der Konflikt- und Friedensforscher Theodor Ebert unterscheidet Formen Gewaltfreier Aktion, die auf drei verschiedenen Eskalationsstufen gesellschaftliche Wirkung zeigen können: je nach Analyse der politischen Situation, der Zielsetzung und zu der zu erwartenden Wirkungsweise. Dabei ist die Blockade eine der höchsten Eskalationsstufen Gewaltfreier Aktion, Demonstrationen auf der ersten Stufe eine Form des Protests und Boykott beispielsweise eine Form legaler Nichtzusammenarbeit auf der zweiten Stufe der Eskalation. Viele Möglichkeiten, dem politischen Gegner öffentlich die Legitimation zu entziehen.

Gewaltfreie Aktionen besitzen neben dem ablehnenden immer auch ein konstruktives Element, einen Gegenentwurf zum kritisierten gesellschaftlichen Zustand. Bezogen auf die Aktionsgruppe ist das der praktizierte basisdemokratische und gewaltfreie Umgang miteinander. Bei allem Bemühen, die gewaltfreie Haltung zu verbreiten, ist darauf zu achten, die gewaltfreie Position klar und durchaus auch überzeugend, jedoch ohne Dogmatismus darzustellen.

Ohne Einbindung in ein kontinuierlich aufgebautes Konzept bzw. in eine Kampagne geht der zivile Ungehorsam als Einzelaktion unter. Scharf kritisiert attac - Mitbegründer Felix Kolb im TAZ - Interview (26.1.2012) die Praxis zivilen Ungehorsams im post-autonomen Spektrum: „Das linksradikale Spektrum ruft zum zivilen Ungehorsam – läuft aber de facto fast uniformiert zum Schottern und wenn die Polizei kommt, schlagen sich viele in die Büsche“. Gewaltfreie Akteure zeigen ihr Gesicht, Gesetze, Anordnungen oder Regeln werden bewusst übertreten. Teil der Aktion ist es, diese politische Haltung auch vor Gericht zu vertreten.

Ziviler Ungehorsam ist eine gewaltfreie Strategie und kein Slogan. Die Mittel entsprechen dem Fernziel einer gerechten und gewaltfreien Gesellschaft. Ziviler Ungehorsam ist eine politisch motivierte Aktion, um sich „Unrecht“ zu widersetzen und auf emanzipatorische Weise auf Veränderungsprozesse hin zu wirken. Die Gewaltfreie Aktion ist eine Herausforderung – sie bedeutet politische Verantwortung und Einmischung zugleich.


Renate Wanie ist hauptamtliche Mitarbeiterin der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden, Büro Heidelberg und eine der SprecherInnen der Kooperation für den Frieden.

Veröffentlicht in: Hg.: Schweitzer, Christine (im Auftrag des Bund für Soziale Verteidigung, Reihe: Kleine Texte 51):

Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktionen in den Bewegungen - Über das Verhältnis von Theorie und Praxis. Berlin 2012,
AphorismA Verlag, S. 14-22