Dr. Theodor Michaltscheff
Mittel des Gandhischen gewaltlosen Kampfes
ca. Mitte 1963 verfasstes, unveröffentlichtes Manuskript
On-line gesetzt am 23. Oktober 2019
zuletzt geändert am 3. November 2023

Aus der Darlegung der Grundsätze des Gandhischen Pazifismus könnte der Eindruck entstehen, als wäre der Mahatma darauf ausgegangen, ein pazifistisches System zu schaffen. Nichts lag aber Gandhi ferner als dies. Der kleine, aktive und energiestrotzende Mann wäre wahrscheinlich daran auch gar nicht interessiert gewesen.
Primär bei Gandhi war am Anfang nicht der Pazifismus, sondern die Befreiung Indiens, und man kann, so paradox auch dies klingen mag, sagen, daß nicht der Pazifsmus die Befreiung Indiens herbeigeführt hat, sondern das Verlangen nach Freiheit für sein Land hat den Pazifismus ins Leben gerufen.

Was Gandhi brauchte, war nicht eine neue Lehre, sondern eine neue Methode, um sein Land vom britischen Joch zu befreien. Denn seine Landsleute hatten 160 Jahre lang durch blutige Aufstände versucht, dieses Joch abzuschütteln, und sie wurden immer wieder geschlagen. Und zwar nicht deswegen, weil die Inder weniger tapfer als die Engländer waren, sondern weil sie der Militärmacht Englands nicht gewachsen waren. Und damals bestand auch keine Hoffnung daß das indische Volk je einen solchen Stand erreichen könnte.

Gandhi kam daher zu dem Schluß, daß Indien ganz neue Mittel - eine ganz neue Methode - brauchte, um sein Ziel zu erreichen, und er machte sich zur Aufgabe, diese Mittel zu erfinden und sie seiner Heimat zugänglich zu machen.

Aus der praktischen Anwendung dieser Mittel entstand die Methode, und aus der systematischen Erweiterung und Vertiefung der Methode entstand die Lehre, sozusagen als Versuch, die Methode zu erläutern, zu begründen, sie den anderen zugänglich zu machen.
+
Für die Entstehung der Lehre der Gewaltlosigkeit spielte ein kleiner Zufall eine beträchtliche Rolle. Im Jahre 1893 kam Gandhi aus beruflichen Gründen in Südafrika an. Eines Tages fuhr er mit einem Zug erster Klasse, der nur Weißen vorbehalten war, und wurde mit roher Gewalt hinausgeworfen. Auch in Hotels wurde er beschimpft, geohrfeigt, mit Fußtritten bedacht und vor die Tür gesetzt, nur weil er eine andere Hautfarbe hatte als die weissen Herren des Landes. Seine Bildung und adlige Herkunft galten nichts.
Da erfuhr Gandhi zum ersten Male, was es heißt, ein Farbiger - ein Aussätziger - zu sein. Daran erkannte er auch, in welcher Lage sich das ganze indische Volk befindet,

Das gab Gandhi den äußeren Anstoß zu seinen Kampf für die Befreiung; Indiens. Denn es fragt sich, ob er, Gandhi, ohne diesen Anstoß überhaupt auf den Gedanken gekommen wäre, den Engländern den gewaltlosen Krieg anzusagen und dafür seine berufliche Laufbahn als angesehener Rechtsanwalt zu opfern.

Auf alle Fälle wäre Gandhi todsicher nicht auf den Gedanken gekommen, seine hervorragende Lehre von der Gewaltlosigkeit zu schaffen, wenn er sie nicht für die praktischen Zwecke der Befreiung seines Volkes benötigt hätte.
+
Die Mittel deren sich Gandhi in seinem gewaltlosen Kampf bedient, hat er z.T. von der Gewerkschaftsbewegung übernommen, aber erweitert, verfeinert und vertieft. Er hat aber viele neue Kampfmittel erfunden, die den besonderen Zwecken des Kampfes und der besonderen Mentalität der Inder angepaßt sind.

In welchem Geist die Inder unter Gandhis Führung den gewaltlosen Kampf leisteten, ist aus folgendem Gelöbnis zu ersehen, das jeder ablegen mußte, der der Satyagraha-Bewegung beitreten wollte:

"Ich werde niemanden auf Erden fürchten. Ich werde allein die Wahrheit oder Gott fürchten. Ich werde keinem übelwollen. Ich werde mich keiner Ungerechtigkeit fügen, von wo auch sie kommen mag. Ich werde die Unwahrheit durch Wahrheit besiegen. Während ich die Unwahrheit durch Wahrheit, den Haß durch Liebe und die Ungerechtigkeit duroh Gerechtigkeit bekämpfe, werde ich fröhlich und mit Wohlwollen zu allen alles Leid auf mich nehmen," (Diwakar S. 59)

Streik
Von den gewaltlosen Kampfmitteln, die sich Gandhi vom Westen, d.h. von der Gewerkschaftsbewegung entliehen hat, steht an der Spitze der Streik. Gandhi unterscheidet drei Arten von Streik:

Hartal ist eine kurze Arbeitsniederlegung von 24 Stunden. Es ist eine Form des Protestes und der Warnung. Er kann aber verlängert werden, wenn der Anlaß wichtig und das bekämpfte Übel groß ist.

Eine Massen-Satyagraha bzw. eine Massen-Verweigerung der Zusammenarbeit kann oft die Form eines Streiks und sogar Generalstreiks bekommen, wenn auch Gandhi dafür seine Bezeichnungen vorzieht.

Völlig neu für den indischen Freiheitskampf ist die Steuerverweigerung, der Steuerstreik. Die Steuerverweigerung stellt die 4. Stufe der Verweigerung der Zusammenarbeit (non-cooperation) dar.

Eine besondere Form im indischen Freiheitskampf war auch der Hungerstreik. Die extremste Form dieser Streikart war das Hungern bis zum Tode. Der Hungerstreik bis zum Tode ist ein sehr gefährliches Kampfmittel, sagt Diwakar. Er darf daher nicht leichtfertig angewandt werden. Zu ihm muß man greifen, wenn alle anderen Mittel versagt haben und das Leben völlig unmöglich geworden ist. Auf alle Fälle muß er bar von Zwang sein und darf nicht zum Zweck haben, die Ansichten anderer zu ändern oder ihnen die eigenen Ansichten aufzuzwingen.

Der Hungerstreik soll nicht mit dem Fasten verwechselt werden, mit dem viele große Aktionen im indischen Freiheitskampf eingeleitet wurden und das zum Zweck hatte, Leib wie Geist der Satyagrahi vor dem Einsatz zu reinigen. Auch ist er nicht mit dem Fasten gleichzustellen, dem sich Gandhi freiwillig unterzog, um Buße für Gewalttaten zu tun, die von indischen Massen wissentlich oder unwissentlich während des Kampfes begangen worden waren.
(Dieses Kampfmittel - der Hungerstreik bis zum Tode - hat sich 1962 Louis Lecoin in Frankreich bedient und es gelang ihm dadurch, die gesetzliche Anerkennung des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung zu erringen.)

Streikposten
Die Streikposten sind eine natürliche Folge des Streiks. Sie haben zum Zweck, die Öffentlichkeit dazu zu bewegen, z.B. nicht in bestreikten Geschäften zu kaufen.
Im indischen Freiheitskampf wurden allerdings "Posten" nicht allein bei Streiks eingesetzt. Posten wurden von den Satyagrahis vor den Gerichten, vor den Staatsschulen und Universitäten, sowie auch vor Geschäften, die englische Textilwaren verkauften, aufgestellt.

Die "Posten" vor den Regierungsgebäuden wurden vor allem durch Frauen besetzt, die mit ihren safrangelben Saris enormen Einruck auf die Bevölkerung machten.
Die Kolonialregierung versuchte, durch Belästigungen und Verhaftungen die Streikposten zu verhindern, dies trug aber nur dazu bei, die Sympathien des Volkes für die Satyagrahis und die Antipathien gegen die Fremdherrschaft umso mehr zu steigern.

Boykott
Von den gewerkschaftlichen Mitteln, die Gandhi für die besonderen Ziele des indischen Freiheitskampfes übernahm, spielt der Boykott eine besondere Rolle. Gandhi unterschied drei Arten von Boykott:

wirtschaftlichen Boykott,
sozialen Boykott, und
Non-co-operation Boykott.

Der wirtschaftliche Boykott richtete sich in erster Linie gegen englische Textilien. Er war nicht als Vergeltungsmaßnahme gedacht, sondern als ein Mittel zum Schutze und zur Förderung der einheimischen Textilindustrie.
Die indischen Importfirmen wurden angehalten, keine Textilien einzuführen, und der indischen Bevölkerung wurde anheimgeste1lt, nur heimgewebte Stoffe zu kaufen und zu tragen. Ausländische Stoffe sollten sogar vernichtet oder nur bei schmutzigen Arbeiten getragen werden.

Am 11. August 1921 wurde in Bombay ein "autodafé" veranstaltet, bei dem Berge von kostbaren Textilien ausländischer Herkunft verbrannt wurden, darunter auch etwa 150 000 auserlesene Seidenstoffe, die bessere Familien für die Aussteuer ihrer Töchter aufgehoben hatten.

Dieser Wirtschaftsboykott wirkte sich katastrophal auf die englische Textilindustrie aus. Zwischen Oktober 1930 und April 1931 ging die Einfuhr englischer Textilien um 84 % zurück, was die englische Industrie nachdenklich machte.

Der soziale Boykott ist eine uralte Einrichtung in Indien. Er ist ebenso alt wie die Kasten und beruht auf der Auffassung, daß eine Gemeinschaft nicht verpflichtet ist, ihre Gastfreundschaft oder ihre Dienste auf einen Ausgestoßenen auszudehnen.
Durch den sozialen Boykott tut die Gemeinschaft jemanden in Acht und Bann, und niemand, der nicht selbst aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden will, wagt es, Umgang mit dem Ausgestoßenen zu pflegen.

Der soziale Boykott ist eine schreckliche Vergeltungsmaßnahme und wird überall mit großem Erfolg angewendet. ( Einem sozialen Boykott wurden z.B. während des Zweiten Weltkrieges die Kollaborateure in Jugoslawien, Norwegen, Dänemark, Frankreich usw. ausgesetzt. Den kollaborierenden Frauen wurden u.a. die Haare abgeschnitten. Nach dem Kriege wurden die Kollaborateure in den ehemals deutsch-besetzten Ländern der allgemeinen Verachtung preisgegeben. Niemand wollte etwas mit ihnen zu tun haben. Man übte sozialen Boykott gegen sie - wenn auch nicht im Sinne Gandhis.)

Gandhi war kein Freund des sozialen Boykotts, weil er gegen Vergeltungsmaßnahmen und gegen Gewaltvorgehen war. Sozialer Boykott ist nach Gandhi nur dann anwendbar und wirksam, wenn er von demjenigen, gegen den er gerichtet ist, nicht als Strafe empfunden, vielmehr als disziplinarische Maßnahme entgegengenommen wird. Auch muß der soziale Boykott bar jeder Unmenschlichkeit und Unfreundlichkeit sein. Der soziale Boykott muß zum Zweck haben, den Betreffenden zu läutern, nicht zu strafen.

Am allerwichtigsten ist aber der Non-cooperation Boykott. Er bestand darin, daß Inder in gehobenen Stellungen ihre Ämter niederlegten. So z. B. Richter und Rechtsanwälte in den Gerichten, Regierungsbeamte und Präsidenten der Länderregierungen, gesetzgebende Räte, Professoren und Lehrer, und nicht zuletzt Schüler und ihre Eltern im Schulwesen.

Über diese Maßnahmen gab es heftige Streitigkeiten im Kongress, Gandhi war aber der unerschütterlichen Meinung, daß die Lage so unerträglich geworden sei, “daß dem Menschen, der noch etwas auf sich hält, nur der Weg der Non-cooperation, d.h. der totalen Enthaltung von jeder Teilnahme am Staatsleben, übrig bleibt". (Jung Indien S.116)

Was den Boykott der Staatsschulen anbetrifft, so bedeute dies kein Opfer.’ „Wir müssten ganz ungeeignete Kämpfer sein", sagt Gandhi, "wenn wir nicht einmal unsere eigene Erziehung von der Regierung unabhängig machen könnten. Jedes Dorf soll für die Erziehung seiner Kinder sorgen...Und die Lehrer, die heute an Staatsschulen tätig sind, könnten – sofern sie sich bereit finden, ihre Stellung aufzugeben - Volksschulen eröffnen und unsere Kinder das zu lehren, was sie brauchen, anstatt aus der Mehrheit von ihnen gleichgültige Beamte zu machen.“ (Jung Indien S.145).

Und Millionen Inder haben sich des Boykotts gegen das verhasste Kolonialssystem bedient. Zwanzig Jahre später waren Norweger und Dänen an der Reihe, sich dieses Mittels zu bedienen, und heute sind es die Neger in den Südstaaten der USA.

Was aber Gandhi ganz entschieden ablehnte, waren Sabotage und Geheimnistuerei, die seiner Meinung nach völlig dem Geiste der Gewaltlosigkeit und der Satyagraha widersprechen.

Die beiden wichtigsten Mittel des Gandhischen gewaltlosen Kampfes sind allerdings Non-cooperation (Verweigerung der Zusammenarbeit mit dem Gegner) und Civil-disobedience (bürgerlicher Ungehorsam).

Non co-operation

Die Verweigerung der Zusammenarbeit ist ein freiwilliger Akt und hat zum Zweck, etwas Schlechtes und Verwerfliches mit gewaltlosen Mitteln zu beseitigen. Dieses ist das einfachste Kampfmittel der Gewaltlosigkeit und kann auch von Kindern und dem einfachen Volk erfaßt und geübt werden (Jung Indien S. 242)

Gandhi sagt dazu:
"Die Verweigerung der Zusammenarbeit ist kein Zustand der Passivität. Sie ist ein Zustand intensivster Aktivität. Sie ist aktiver als äußerer Widerstand oder Gewalt.
Die Verweigerung der Zusammenarbeit, so wie ich es verstehe, muß völlig gewaltlos sein, muß also ausgeübt werden ohne ein Gefühl von Bestrafung, Vergeltung, Bosheit, Übelwollen oder Haß. Daraus geht hervor, daß es für mich beispielsweise eine Sünde wäre, mit General Dyer (der ohne Provokation auf eine Massenansammlung von Indern schießen ließ, T.M.) zusammenzuarbeiten und auf seinen Befehl unschuldige Menschen zu erschießen. Sollte er aber an einer körperlichen Krankheit darniederliegen, so wäre es für mich eine Übung im Verzeihen und Lieben, ihn gesund zu pflegen. Ich würde mit der Regierung tausendmal zusammenarbeiten, wenn es gälte, sie vom Wege des Verbrechens abzubringen, ich würde aber kein einziges mal mit ihr zusammenarbeiten, um sie beim Begehen von Verbrechen zu unterstützen. Auch würde ich mich eines Unrechtes schuldig machen, wollte ich eine Ehrung von ihr annehmen‚ einen Titel beibehalten, den sie mir verliehen hat, oder in ihrem Dienst bleiben bzw. ihre Gerichte und Schulen weiterhin in Anspruch nehmen." (Jung Indien, S.147)

Gandhi war ein großer Gegner von eigenwilligen Handlungen einzelner Eiferer.
Diejenigen, die sich des Ernstes der Sache und der eigenen Verantwortlichkeit ihr gegenüber bewußt sind, sagt er, werden nicht auf eigene Faust vorgehen, sondern nur in Übereinstimmung mit der Leitung der Aktion.

Um erfolgreich zu sein, muß die Verweigerung der Zusammenarbeit stufenweise und systematisch durchgeführt werden. Dafür waren vier Etappen vorgesehen, die aufeinander folgten, jedoch voneinander klar abgegrenzt waren.

Die erste Stufe war eine Art Generalangriff und sah vor:
a. Verzicht auf alle Ehrentitel und Ehrenämter.
b. Nichtbeteiligung an Staatsanleihen.
c. Niederlegung der Anwaltstätigkeit vor Gerichten und Beilegung vor Zivilprozessen durch private Schiedsgerichte.
d. Boykott der Staatsschulen durch die Eltern.
e. Boykott des Rates für konstitutionelle Reformen.
f. Nichtteilnahme an offiziellen Empfängen und Funktionen.
g. Ablehnung aller zivilen und militärischen Ämter.

Die zweite Stufe setzt ein, wenn die erste versagt oder unzureichend ist. Sie sieht die Abberufung aller Beamten und Staatsangestellten vor, allerdings unter der Bedingung, daß für die Familien Vorsorge getroffen ist und auf die Betroffenen kein Zwang ausgeübt wird.

Die dritte Stufe besteht in dem Austritt aus Polizei und Militär, und

die vierte Stute in der Steuerverweigerung bzw. im Steuerstreik.

Alle diese Maßnahmen sind mit Risiken verbunden. Gandhi war aber überzeugt, daß das Risiko einer Untätigteit angesichts schwerer Entscheidungen unendlich größer ist als die Gefahr etwaiger Gewalttaten bei der Durchführung der Aktionen.

Die englischen Kolonialregierung hat auch nie gezögert, scharfe Maßnahmen gegen die indischen Gewaltlosen zu ergreifen.Sie wurden zu Hunderten verhaftet , die Gefängnisse waren vollgestopft ‚ aber für jeden Verhafteten waren zehn Neue zur Stelle, die geradezu darauf ausgingen, ebenfalls verhaftet zu werden.

Angesichts dieser bedingungslosen Opferbereitschaft mußte die Kolonialverwaltung kapitulieren. Die indischen Gefängnisse während des Freiheitskampfes waren nicht Schulen der Kriminalität, sondern Hochschulen der Menschenwürde und Demokratie. Durch diese Hochschule ging die ganze damals junge Generation, mit Gandhi, Nehru, Rajendra Prasad usw. an der Spitze. Die später die Geschicke des befreiten Indiens leiteten und die indische Demokratie gestalteten.

Diese Einzelheiten über die Verweigerung der Zusammenarbeit mögen für uns hier und heute irrelevant sein, weil sie nur der damaligen spezifische Situation entsprechen, doch sie zeigen, wie wirksam dieses Mittel ist und wie umsichtig man mit ihm umgehen muß.
Auch geben sie Anhaltspunkte wie man das Mittel für andere Lagen umwandeln kann.

Civil Disobedience- bürgerlicher Ungehorsam
Die Bezeichnis „civil disobedience“ hat Gandhi von dem Amerikaner Henry David Thoreau übernommen, der sich 80 Jahre zuvor geweigert hatte, einem Gesetz Folge zu leisten, das er für schlecht und verwerfllch hielt. Thoreaus Schrift „On clvil disobedience" hat auf Gandhi einen enormen Eindruck gemacht.

Der bürgerliche Ungehorsam besteht im Bruch solcher gesetzlicher Vorschriften, die sittlich anfechtbar sind. Während sich jedoch Thoreaus Widerstand nur gegen die Erlasse eines der Südstaaten der USA richtete, in dem noch Sklaverei herrschte, richtete sich der bürgerliche Ungehorsam in Indien seit 1919 gegen jedes unsittliche Gesetz.
Der bürgerliche Ungehorsam ist absolut gewaltlos und ein Bestandteil der Satyagraha.
Im Gegensatz zur Verweigerung der Zusammenarbeit, die auch von Kindern verstanden und ausgeübt werden kann, setzt der bürgerliche Ungehorsam genaue Kenntnis des Prinzips voraus und kann daher nur von Wenigen begangen werden.

"Der Verbrecher bricht das Gesetz im Geheimen und sucht der Strafe zu entgehen“
sagt Gandhi. „Nicht so der, der bürgerlichen Ungehorsam leistet. Er gehorcht den Gesetzen nicht deshalb, weil er sich vor Strafen fürchtet, sondern weil er sie für geeignet erachtet, das Wohl des Volkes zu fördern. Es gibt jedoch Fälle, in denen das Gesetz
so ungerecht ist, daß ihm gehorchen einer Entehrung gleichkäme. In solchen Fällen bricht er das Gesetz offen und nimmt auf sich die Konsequenzen." (Jung Indien S. 11)

Zum ersten Male verhängte Gandhi bürgerlichen Ungehorsam am 6. April 1919, um gegen die Rowlatt-Gesetze anzugehen, die die Freiheit des indischen Volkes stark einschränkten. Obwohl damals noch keine Organisation vorhanden war und keine Vorbereitungen getroffen waren, erfolgte vom ganzen Lande weit und breit, sogar von kleinen Dörfern, eine überwältigende Zustimmung (Jung Indien S. 12).

Dass der bürgerliche Ungehorsam ein gefährliches Kampfmittel sein kann, hat Gandhi aus eigener Erfahrung gelernt. So wurde z.B. am 17. November 1921 eine Polizeikaserne von der aufgebrachten Menge in Brand gesetzt, weil sich darin die Polizei verbarrikadiert hatte, die zuvor auf die Menge geschossen hatte. Daß aber auf der anderen Seite dieses Mittel ein ganzes, allgemein gefürchtetes Gesetz zum Stürzen bringen kann, wenn der bürgerliche Ungehorsam von geeigneten Menschen geführt wird, zeigt das Vorgehen gegen das Salzmonopol im Jahre 1930. Da ließen sich die tapfersten Krieger Indiens, die Sikhs, die sich zur Satyagraha bekannt und die Waffen niedergelegt hatten, mit schweren Lathis (Bambusstöcken) niederschlagen, ohne einen Finger zu Schutz der Köpfe zu rühren.

Ein amerikanischer Augenzeuge schildert einen Teil des Vorfalls wie folgt:
".... Der Führer der Sikhs war ein riesengroßer Kerl. Sein Bart war an den Ohren gebunden. Ich stand sechs Schritte von ihm und beobachtete. Die Polizei schlug mit langen Lathis auf seinen Kopf ein. Sein Turban löste sich durch die Schläge und entblößte den Kopf mit dem geknoteten Haar. Einige weitere Schläge liessen das Haar über sein Gesicht fallen, und nach einigen weiteren fing das Blut an, am Haar herunterzulaufen. Aber der Sikh stand da, ohne die geringste Bewegung der Abwehr. Schließlich brachte ihn ein schwerer Schlag zu Boden."
Dieser Schlag machte aber auch den wütenden Sergeanten fertig. Er ließ sein Lathi fallen und ging davon. Das grausame Vorgehen der weißen Sahibs rief aber helle Empörung in der ganzen Welt hervor und brachte das ungerechte Salzgesetz zu Fall und somit den bürgerlichen Ungehorsam zum Sieg. (War without Violence, S. 54)

Gandhi war felsenfest überzeugt, daß der bürgerliche Ungehorsam dem Schwert turmhoch überlegen ist, wenn er von den richtigen Personen ausgeführt wird, und seine Erfahrung hat seinen Glauben bestätigt. Da, wo dieses Mittel versagt hat, waren die falschen Menschen und nicht das richtige Mittel schuld.

Zum Schluß noch ein paar Worte über die gewaltlosen Obstruktionen
Während des indischen Befreiungskampfes gab es viele Fälle von Obstruktionen. Die Studenten der Kalkutta Universität beispielsweise ließen sich in dichten Reihen vor dem Eingang der Universität nieder, um zu verhindern, daß der Lehrbetrieb stattfand. Wer durchaus in die Universität gehen wollte, mußte daher über ein ganzes Meer von Leibern gehen. Die Obstruktionisten ersuchten sogar ihre Komilitonen, die den Lehrbetrieb besuchen wollten, über ihre Leiber zu marschieren und versicherten ihnen, daß sie keinen Finger zur Vergeltung rühren würden.

Ähnlich verfuhren die satyagrahis, wenn sie die Abfahrt eines Militärzuges verhindern wollten. Sie legten sich zu Tausenden auf die Schienen und versperrten den Weg mit ihren Leibern. Und kein Lokomotivführer wagte es, die Lok in Bewegung zu setzen, da er wußte, daß die Satyagrahis zur Selbstaufopferung entschlossen waren.
Unglücksfälle passierten ganz selten. Einer ereignete sich 1930 beim Boykott der Auslandsstoffe. Eine große Importfirma ließ sich durch nichts dazu bewegen, Einfuhr und Vertrieb von Manchester-Textilien einzustellen. Daraufhin legte sich ein junger Satyagrahi vor das Eingangstor der Firma und forderte den Chauffeur auf, über seinen Leib zu fahren, was der auch tat. Der Satyagrahi war sofort tot. Die Empörung der ganzen Provinz war so groß, daß das angestrebte Ziel erreicht wurde. Der Importkaufmann soll sogar der Bewegung beigetreten sein. (War without Violence, S. 41/42)

Einige Tage später fand ein großer Protestmarsch von Satyagrahis in einer der Hauptstraßen von Bombay statt. Die Polizei versperrte ihnen den Weg. Die über 30 ooo Teilnehmer setzten sich auf der Stelle auf die Straße. Ihnen gegenüber saß die Polizei. Es wurde dunkel und es fing an zu regnen, keiner dachte aber daran, wegzugehen. Die Bürger der Umgebung brachten den Satyagrahis Essen, Wasser und Decken, die diese mit der Polizei teilten. Am Ende gab die Polizei nach, und die Aktion endete um Mitternacht mit einem Triumphmarsch. (War without Violence, S. 42)

Die Wehrdienstverweigerung
Die Wehrdienstverweigerung zählt nicht zu den gewaltlosen Mitteln des gandhischen Pazifismus. Das kommt z.T. daher, weil er das Wort isoliert von seinem Zusammenhang. betrachtete.
"Bloß Militärdienst verweigern, genügt nicht", sagt Gandhi. Sich weigern, zu gegebener Zeit Militärdienst zu leisten, heißt etwas tun, nachdem praktisch die ganze Zeit vergeudet ist, in der das Übel hätte bekämpft werden können.

Militärdienst ist nur ein Symptom für ein tiefersitzendes Übel.
Diejenigen, die nicht in der Militärstammrolle stehen, beteiligen sich gleichermaßen am Übel, wenn sie den Staat auf andere Weise unterstützen.
Wer einen auf militärische Art organisierten Staat - sei es direkt oder indirekt - unterstützt, beteiligt sich an der Sünde. Jeder, alt oder jung, nimmt an der Sünde teil, wenn er zum Unterhalt des Staates Steuern zahlt." (Brevier S. 291)

Wenn aber auch Gandhi kein Anhänger der Militärdienstverweigerung war, so hat er doch 1932 das "Internationale Manifest gegen die Wehrpflicht" unterzeichnet, in den es u.a. heißt:
"Wir glauben, daß auf der Wehrpflicht aufgebaute Heere mit ihrem großen Stab von Berufsoffizieren eine schwere Bedrohung des Friedens darstellen. Zwangsdienst bedeutet Entwürdigung der freien menschlichen Persönlichkeit. Das Kasernenleben, der militärische Drill, der blinde Gehorsam gegenüber noch so ungerechten und sinnlosen Befehlen, das ganze System der Ausbildung zum Töten untergraben die Achtung vor der Persönlichkeit, der Demokratie und des menschlichen Lebens.
Die Wehrpflicht fügt diesen Schaden dem ganzen Volke zu. Sie pflanzt der ganzen männlichen Bevölkerung einen militärischen Geist ein, und das in einem Alter, in dem sie solchem Einfluß am ehesten erliegt. So kommt es, daß schließlich der Krieg als unvermeidlich, ja, als erstrebenswert angesehen wird."

Wenn auch Gandhi kein Anhänger der Wehrdienstverweigerung war, so war er ein erbitterter Feind des Krieges. Er hat sich selbst als „War Resister" bezeichnet (Non-Violence in Peace and War, 1/388), d.h. als Kriegswidersetzer, was wir im Deutschen als Kriegdienstverweigerer bezeichnen.

Es ist zwar müßig, sich Gedanken zu machen, wie Gandhi sich zur gegenwärtigen Militarisierung seiner geliebten Heimat stellen würde. Wenn man sich aber die Worte ins Gedächtnis ruft, die er dem damaligen burmesischen Ministerpräsidenten gesagt hat, daß nämlich "die Militarisierung Indiens seinen eigenen Untergang und den Untergang der ganzen Welt bedeuten würde" (Non-violence in Peace and War, 11/340/41) so kann man sich vorstellen, wie er zur Verdreifachung des indischen ohnehin übermäßigen Militärbudgets (1962) reagieren würde, von dem Krieg mit China ganz zu schweigen.

Die Aufgabe des Militärs nach Erlangung der Freiheit sollte nach Gandhi sein: "Das Land zu pflügen, Brunnen zu bauen, Latrinen zu reinigen und jede Art konstruktiver Arbeit zu leisten, um dadurch den Haß des Volkes gegen sich in Liebe umzuwandeln". (Non-violence in Peace and War, 11/79)

In Gandhis Indien werden heute sogar junge Mädchen im Gebrauch der Waffe ausgebildet.
+
Was Gandhi wollte, war nicht eine Armee der Waffengewalt, sondern eine Friedensarmee. Von ihm stammt in der Tat die Idee zur Gründung einer Shanti Sena - einer freiwilligen Friedensarmee- ‚ deren Aufgabe sein sollte, Spannungen zu beheben, Streitigkeiten auszugleichen, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern, den gestörten Frieden wiederherzustellen. Diese Friedensarmee sollte nach und nach an die Stelle der Polizei treten und auch das Militär ersetzen.

Eine Armee, die sich auf Waffengewalt stützt, pflegte Gandhi zu sagen, tritt nur in unruhigen Zeiten in Tätigkeit; eine Friedensarmee wird dagegen ständig tätig sein - in unruhigen wie in Friedenszeiten. Sie wird immer alle Hände voll zu tun haben, nicht allein um den Frieden aufrechtzuerhalten oder ihn wiederherzustellen, wenn er gestört ist, sondern auch, um sozialen Frieden zu schaffen - durch Hebung des Lebensstandards, durch Schaffung gerechter sozialer Verhältnisse, und vor allem durch Erziehung zum Frieden. Die Freiwilligen sollten imstande sein, mit jeder Lage fertig zu werden und nötigenfalls ihr Leben zu opfern, um aufgeregte Massen zu beruhigen.

Gandhis Idee von einer freiwilligen Friedensarmee wurde erst 1957, 10 Jahre nach seinem Tode, von seinem Freund und Mitarbeiter Vinoba Bhave in die Tat umgesetzt. Sie ist noch viel zu klein - nur einige Tausend - um die gesteckte Aufgabe zu erfüllen. Sie wächst aber langsam und ständig.
Auf der Internationalen Konferenz der War Resisters’ International im Dezember 1960 in Indien wurde u.a. beschlossen, Gandhis Initiative neu aufzugreifen und der freiwilligen Friedensarmee internationalen Charakter zu geben. Im Sommer 1961 wurde ein Vorbereitungsausschuß ins Leben gerufen, der eine internationale Tagung vom 28. Dez. 1961 bis 2. Januar 1962 in Beirut, Libanon, einberief, auf der die Weltfriedensbrigade aus der Taufe gehoben wurde.
Gute Ideen gehen selten verloren. Sie brauchen aber Zeit, um sich zu entfalten. Gandhis Shanti Sena brauchte fast 15 Jahre, um Wirkliohkeit zu werden.
Gottes Mühlen mahlen langsam - aber sie mahlen unentwegt.

Schlußbetrachtung
Die altindischen Religionen und insbesondere der Buddhismus enthielten viele der Grundelemente einer pazifistischen Weltanschauung. Zu einem Pazifismus haben jedoch diese Elemente nicht ausgereicht, weil sie in den Dienst weltabgewandter Ziele (Nirwana) gestellt waren.

Die Aufgabe, eine pazifistische Lehre zu schaffen, war dem weltzugewandten Gandhi vorbehalten. Es ist zwar wahr, daß sich Gandhi nie als Pazifist bezeichnet hat, das ändert aber nichts an der Tatsache, daß er dem Pazifismus erstmalig eine Weltanschauung und eine Methode geschaffen hat.

Es wäre natürlich verfehlt zu glauben, daß Gandhi ein zusammenhängendes, abgeschlossenes pazifistisches System dargelegt hat. Dazu hatte er weder Zeit noch Lust. Was er uns geschenkt hat, ist ein in sich abgeschlossenes System der Gewaltlosigkeit.
Gandhis Gewaltlosigkeit ist vielseitig. Sie ist erst eine Methode. Sie Ist aber auch eine Lehre, und sie ist schließlich eine Lehre von der Methode. In dieser dreifachen Gestalt ist sie das, was hier als Gandhischer Pazifismus bezeichnet wird.

Auf alle Fälle hat Gandhi dem Pazifismus erstmalig in der Weltgeschichte die Methode geschaffen, die dem Pazifismus ureigen ist und die ihm bis dahin fehlte.
Gandhi hat aber dem Pazifismus nicht allein die Methode geschaffen, sondern ihr auch das Werkzeug, - die gewaltlosen Mittel - beigefügt, die sie zu ihrer Durchsetzung braucht.

Was aber fast am wichtigsten ist, ist, daß Gandhi diese Methode samt ihren Werkzeugen auf die Probe gestellt hat, und sie hat sich bewährt. Durch diese Methode hat Gandhi binnen dreißig Jahren das erreicht, was das indische Volk 160 Jahre lang durch unzählige blutige Aufstände nicht erreichen konnte - die Befreiung Indiens. Und noch mehr: Er hat sich die Engländer, die er durch gewaltlose Mittel bekämpfte, schließlich zu Freunden gemacht.

Daß der Pazifismus heute im Besitze dieser hervorragenden Methode ist und sich ihrer in seinem Kampfe gegen Krieg und Kriegsursachen und für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und eine Welt ohne Krieg bedient, verdankt er dem kleinen, schmächtigen Mann, den weiße Männer aus einem Zug erster Klasse hinausgeworfen haben, weil er eine dunklere Hautfarbe als sie hatte.
Das wird allzu oft auch heute vergessen.

Von Michaltscheff ca. Mitte 1963 verfasstes, bisher unveröffentlichtes Manuskript