Wolfgang Hertle
Entwicklung der gewaltfreien Bewegung der Nachkriegszeit-Skizze Teil I
Zwischen Kriegsende und Remilitarisierung
On-line gesetzt am 16. Februar 2022
zuletzt geändert am 26. November 2023

Nach wie vor fehlt eine einigermaßen vollständige Beschreibung der Gruppierungen, Aktionen, Diskussionen und Schriften der gewaltfreien Bewegung in Deutschland, ob für die Zeit vor 1933 oder seit 1945 (1). Der Versuch, die Entwicklung der Bewegung für die Jahre 1945 bis 1968 zu rekonstruieren, gleicht einem Puzzle, von dem zwar viele Ein­zelteile verstreut zu finden sind, es jedoch noch keine Vorlage gibt, die zumindest die Umrisse des Wesentlichen festlegt bzw. eindeutige Kri­terien, welche Teile zu diesem Bild gehören und welche nicht. Ein weiteres Problem bei diesem "Puzzle" ist, dass die im engeren Sinn für das Thema bedeutsamen Teilchen aus Bergen zeit­geschichtlichen Materials über die Friedensbe­wegung herausgesucht bzw. durch Inter­views recherchiert werden müssen.

Die größeren pazifistischen Organisationen wie die Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK), der Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK) oder der Versöhnungsbund (VB) gaben Zeits­chriften und Broschüren heraus. In der “Friedensrundschau” (1947 bis 1966)‚ in "zivil" (mit Vorläufern 1958 - 1974) und der "Versöhnung” (1947-1969, danach "Ge­waltfreie Aktion") waren Gewaltlosigkeit/ Gewalt­freiheit häufig Thema, daraus ist aber nicht zwingend zu schließen, dass diese die zentrale Leitlinie für die Praxis der Verbände darstellte. Zudem geben Verbandszeitschriften meist die Mehrheitsmeinung wieder, stellen mehr die Plä­ne und Erfolge dar als interne Probleme und kri­tische Positionen.
Vor allem Einzelne oder kleine Grup­pen am Rande, innerhalb und ausserhalb dieser Verbände, drängten darauf, dass sich die Prinzipien gewaltfreien Widerstands über Aktio­nen äußern müssten. Immer wieder waren sol­che Minderheitsgruppen enttäuscht über die mangelnde Konsequenz in Praxis und politischer Zielsetzung der pazifistischen Ver­bände, einem Kompromiss zwischen bürgerli­chen, sozialdemokratischen und von Kommuni­sten beeinflussten Kräften. Sie glaubten, in unabhängigen Gruppen eindeu­tiger und effektiver arbeiten zu können. Über Rundbriefe und Flugblätter versuchten sie ihre Ideen zu verbreiten.

Es ist nicht leicht, heute komplette Sammlungen die­ser Blätter mit kleinen Auflagen zu beschaffen, noch schwerer ist es, Einblick in Korresponden­zen und Protokolle dieser Gruppen zu erhalten. In den seltensten Fällen haben die Beteiligten die Aktivitäten ihrer "Bezugsgruppe" ausgewer­tet oder für die Nachwelt dokumentiert. (Hilfreich könnten die Bibliographische Notizen zum Thema gewaltfreie Bewegung 1945 - 1968) sein.
Interviews mit Zeitzeuglnnen ergänzen daher das schriftliche Material durch Informationen und Aspekte, die sonst unbeachtet blieben. Die Befragungen setzen voraus, dass die intervie­wende Person viel an Vorwissen mitbringt, um detailliert nachhaken und erinnern zu können, falls die Befragten zu subjektiv oder lückenhaft berichten. (2)

Im Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland rela­tiv wenig Kriegsdienstverweigerer, (in England 16 000, in den USA 60 000). Schon an der Gründung des Internationalen Ver­söhnungsbundes 1914 und von PACO 1921 (War Resisters’ International ‚WRI ab 1923) nah­men Deutsche u. a. Friedrich Siegmund-Schult­ze, Helene Stoecker und Max Josef Metz­ger teil. Doch die politische Strömung, die Kriegsursachen und strukturelle Gewalt durch gewaltfreien Widerstand beseitigen bzw. verrin­gern wollte‚ war auch zwischen 1918 und 1933 in Deutschland deutlich schwächer als z. B. in Holland oder den angelsächsischen Ländern. (3)

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg zer­rieben die Friedensbewegung. Ca 20 000 "Wehrkraftzersetzer", Deserteure und Kriegs­dienstverweigerer wurden hingerichtet, darunter Katholiken wie Max Josef Metzger und Franz Jäger­stätter, Protestanten wie Hermann Stöhr - um nur wenige Beispiele zu nennen.

1945-1950: Kontinuität oder Neubeginn ?
1945 blieben von den Ansätzen gewaltfreier Bewegung in der Weimarer Republik nur wenige Spuren übrig. Im wesentlichen musste ein Neuanfang gemacht werden. In Zeit­schriften wie in Zeitzeugeninterviews über die Zeit nach 1945 sind relativ wenig Rückbezüge auf die Friedensbewegung vor Hitlers Machtergrei­fung, sowie deren Schicksal im Nazi - Deutschland oder im Exil zu finden.

Internationale der Kriegdienstgegner

Vom Bund der Kriegsdienstgegner, der 1919 gegründet und 1933 von den Nazis verboten wurde, lebten bei Kriegsende zu wenige Mit­glieder, um einen Neuaufbau einer WRI-Sektion leisten zu können. Von der WRI-Zentrale in London wurden Kontakte zwischen verstreuten Einzelpersonen vermittelt. Der erste Brief, der die WRI in London nach dem Krieg aus Deutschland erreichte, ließ Theodor Michalt­scheff über einen britischen Be­satzungssoldaten von Hamburg nach London schmuggeln. Darin schrieb er:
“Ihr werdet Euch freuen, zu hören, daß ich nach all den schrecklichen Kriegsjahren immer noch am leben bin. Unser Haus wurde mehrmals beschädigt, aber es gelang uns, es zu reparieren und es ist immer noch bewohnbar... Nachdem ich all die Schrecken und Grausamkeiten der Luftangriffe und des Krieges erlebt habe, bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass der Krieg nicht nur ein Verbrechen ist, sondern das größte und verabscheuungswürdige Verbrechen gegen die Menschlichkeit allgemein und gegen die Seele des Menschen im besonderen. Ich hof­fe jedoch, dass das Leiden die Menschen gelehrt hat, den Krieg zu hassen und an den universel­len Frieden und die Brüderlichkeit zu glauben und ihnen entgegenzustreben.” (4)
Der anarchistische Kriegsgegner Theodor Michaltscheff (1899 - 1966) hatte Bulgarien 1924 verlassen müssen und lebte nach Aufenthalten in Frank­reich und England ab 1929 in Hamburg. (5)

Die Erfahrungen im Dritten Reich und im Krieg hatten bei der Mehrheit der Bevölkerung Misstrauen gegenüber jeder politischen Betätigung ausgelöst. Neben dem alles bestimmenden Kampf ums ma­terielle Überleben überwog der Rückzug ins Pri­vate. Die Bedingungen für politische Arbeit wa­ren mehr als ungünstig, es gab kaum funktionie­rende Verkehrs- verbindungen, es fehlte an Versammlungsräumen, an Papier, Literatur und Werbematerial. Die wenigen Aktiven zeigten starkes Interesse an Informationen über die Frie­densbewegung im Ausland. Wichtige Übermittler waren Mitglieder "Historischer Friedenskirchen" und Kriegsdienstverweigerer u.a. aus England, die über den "Internationalen Zivildienst" (SCI) oder die "Friends Ambulant Service Unit" nach Deutschland kamen. Die "War Resisters´ International" und deren englische Sektion "Peace Pledge Union" schickten Broschüren und ihre Zeitschriften "The War Resister" und "Peace News" nach Deutschland.

Ab November 1945 traf sich in Hamburg eine War Resisters Gruppe, die bald auf 50 Mitglie­der anwuchs. Ihre offizielle Gründung erfolgte am 17. Nov. 1946 auf Einladung von Theodor Mi­chaltscheff. In Freiburg (Brsg) gründete sich im 28. Juli 1946 eine Ortsgruppe des "Bund der Kriegsdienst­gegner" neu. Bald entstanden weitere Gruppen in den West-Zonen, u.a. in Aachen, Dortmund und Berlin.
Vom 14. bis 16. Juni 1947 fand in Hamburg die Gründungsversammlung der deutschen WRI-Sektion Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) statt. Die ca. 120 Teilnehmer waren Delegierte deutscher Gruppen sowie Einzelpersonen aus einem Dutzend Städte ausser aus Berlin und der rus­sischen Zone, deren Vertretern die Teilnahme nicht erlaubt worden war. Unter dem Titel "Ge­walt und Gewaltlosigkeit" sprach der frühere Pastor Wilhelm Heydorn, dessen "Menschheits­bund" sich kooperativ der Hamburger Gruppe angeschlossen hatte. Als Ehrengäste wurden die WRI-Generalsekretärin Grace Beaton und der Vorsitzende Runham Brown, sowie Vertreter der englischen und dänischen Sektionen be­grüßt. Vertreten waren auch befreundete Orga­nisationen wie Versöhnungsbund, Deutsche Friedensgesellschaft, Quäker, Esperanto- und Vegetarier-Union, Kulturföderation freier So­zialisten und Antimilitaristen. Zum Vorsitzen­den der IdK wurde Theodor Michaltscheff gewählt.

Die zweite Gesamtkonferenz der IdK vom 28.-30. Mai 1948 in Stuttgart wurde von Rosel Lohse-Link, der Vorsitzenden der dortigen IdK­ Gruppe sorgfältig vorbereitet. Frau Lohse-Link (geb. 1905) kannte die WRI seit den 20er Jah­ren. Von 1929 bis 1933 arbeitete sie in der Nähe von London bei einer Quäkerfamiie als Haus­lehrerin, was ihr Gelegenheit zum Kontakt mit der Londoner WRI-Zentrale bot. 1946 hatte sie von dort die Adresse Theodor Michaltscheffs erhalten.
Grace Beaton sprach in Stuttgart zum Thema "Gewaltlose Mittel": "...Lassen Sie mich noch einige Worte über non-cooperation‚ civil diso­bedience und Massenaktionen sagen. Was die Massenaktionen anbelangt, so sind sie meist zweifelhaften Charakters. Bei einer Massenak­tion ist man von der Handlungsweise der ande­ren Menschen abhängig, während wir besonders den persönlichen Charakter unserer Arbeit beto­nen. Bei uns ist jeder auf sich selbst gestellt... Der zivile Ungehorsam kann individuellen und kollektiven Charakter annehmen. Wir sollten uns daher eingehend mit den von Gandhi ange­wandten Methoden befassen. Gandhis Weg kann überall in der Welt beschritten werden. In In­dien führte er zum vollen Erfolg, und wir alle können von ihm lernen.” (6)

Hem Day, Vertreter der belgischen WRI-­Sektion, Corder Catchpool (Quäker, England), André Trocmé (Versöhnungsbund, Frankreich), sowie weitere Gäste aus Dänemark, Australien und USA verdeutlichten ihr Verständnis von Gewaltfreiheit u.a. bei Ansprachen auf einer großen öffentlichen Friedensdemonstration.

Theodor Michaltscheff (Foto) trug mit dem "Friedens­boten" (später "Friedensrundschau") und einer Reihe von Broschüren (z.B. "Der gewaltlose Kampf und seine Mittel") viel dazu bei, dass die Idee der Gewaltlosigkeit ihren Platz in der Frie­densbewegung erhielt. Die Berichte über Aktio- onen im Ausland machten den deutschen Lese­rInnen gewaltfreien Widerstand vorstellbar. Z.B. wurde aus Anlaß der Konferenz revolu­tionärer Pazifisten 1948 in Chicago über konkrete gewaltfreie Aktionen gegen Krieg, Militarismus und die Wiedereinführung der Wehrpflicht berichtet: Ziviler Ungehorsam gegen Musterung, Steuerverweigerung, Einrich­tung von Ausbildungszentren für unbezahlte Freiwillige usw.. Viele Artikel berichteten über Indien als "Heimat" der gewaltfreien Bewegung: Z.B. von der Allindischen Konstruktiven ­Konferenz, der Gründung der Sarvodaya Samaj, einer dezentralen "Bruderschaft" mit Beteiligung von Rajendra Prasad und Vinoba Bhave. (7)

Nach der Ermordung Gandhis beschrieb Prof. Samar Ranjan Sen Ma, Mitglied des Internatio­nalen Rates der WRI im "Friedensboten": seine letzte Begegnung mit Gandhi:
“... als wir über die derzeitige Demorali­sierung in Deutschland sprachen und über das völlige Fehlen eines Widerstandsgeistes im Au­genblick, wo die Deutschen völlig entwaffnet seien, schüttelte er in großer Trauer den Kopf und bemerkte dazu: Wie schade, dass selbst ein so tapferes Volk nicht erkennt, dass die Seele des Wider­standes nicht in den Waffen, sondern im Geist liegt. Es ist deshalb so niedergeschmet­tert, weil es sein Vertrauen ausschließlich auf die Waffen gesetzt hatte.’... Noch immer klingen die ruhigen Worte Gandhis in mir wieder ’Es ist nicht genug, gut zu sein, unser Gutsein muß auch eine Wirkung haben; es ist auch nicht ge­nug, den Frieden zu wünschen, wir müssen für ihn arbeiten, uns zusammenschließen und für ihn kämpfen.” (8)

Wie notwendig der Kampf für den Frieden war, zeigte die bald einsetzende Debatte über die Wiederbewaffnung. 1947/48 wurde, noch unter dem Eindruck des totalen Krieges, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in die Län­derverfassungen der Westzonen (und 1949 im Grundgesetz) bestätigt. Deutschland lag noch in Trümmern, als US-amerikanische und deutsche Politiker wie Konrad Adenauer über den deutschen Wehrbeitrag zu einem eventuellen Krieg gegen die Sowjetunion nachdachten. Dies ist einer der Gründe, weshalb bis in die 80er Jahre die legale Kriegsdienstverweigerung ein Hauptthema, aber auch die meist praktizierte Ak­tionsform in den deutschen WRI-Sektionen blieb. Direkte Aktionen und Ziviler Ungehor­sam wurde vor allem von kleinen Gruppen in Di­stanz zu den pazifistischen Verbänden propa­giert und praktiziert.

Internationaler Versöhnungsbund und Internationales Freundschaftsheim Bückeburg

Im Februar 1946 erteilte die britische Militärre­gierung die Lizenz zum Neuaufbau des deut­schen Zweiges des Internationalen Versöh­nungsbundes, den Vorsitz hatte zunächst Pastor Wilhelm Mensching, Präsident war Prof. Frie­drich Siegmund-Schulze.
In den Nachkriegsjahren erfuhr der deutsche Versöhnungsbund intensive Unterstützung aus anderen Zweigen des Internationalen Bundes sowie von Historischen Friedenskirchen, z.B. den Quäkern.
1948 machte die Sekretärin des englischen Versöhnungsbundes Muriel Lester eine Vor­tragsreise durch Deutschland. Sie hatte Gandhi mehrmals in Indien besucht und ihn bei seiner Reise durch Europa anlässlich der Round Table­ Gespräche begleitet.
Ostern 1949 fand auf der Comburg bei Schwä­bisch Hall die erste Nachkriegs-Tagung des Versöhnungsbundes deutscher Zweig unter dem Thema "Gewaltlösung heute oder was sonst?" statt. Für viele der etwa 100 Mitglieder und Freunde war es ein Wiedersehen nach fast zwei Jahrzehnten Trennung. Wichtig war auch hier die Anwesenheit ausländischer Gäste wie der 78- jährigen Engländerin Lilian Stevenson, die von der Gründungsphase des lnternationalen Versöhnungsbundes 1914 -15 berichtete. Aus der Arbeit des französischen Zweiges referierten die Pfarrer Henri Roser und Andre Trocmé. (9)

Sachkundige Informationen über die "vereh­rungswürdige Gestalt des Mahatma" lieferte der Sekretär des Internationalen Versöhnungsbunde, Percy Bartlett, London un­ter dem Motto "Gandhis Beispiel und Europa“. Nikolaus Koch‚ damals Mitarbeiter der Frie­densakademie Bad Harzburg ‚ beantwortete die Frage "Kann Gandhis Weg der unsere sein?" positiv:
"Die Gelegenheit ist heute in Deutschland für aktive Nichtgewalttätigkeit günstiger und be­deutsamer als jemals zuvor und als in allen an­deren Ländern der Welt." (10)

Friedrich Siegmund-Schultze sprach zur Frage "Welche Rolle spielt die Gewalt in der heutigen Weltlage ?" Er sah in Deutschland eine große Skepsis gegenüber jeder Art von Friedensarbeit, besonders in der Jugend überwiege das Gefühl der Aussichtslosigkeit. Daneben gäbe es viele Urteilslose und Mitläufer und nur eine viel klei­nere Gruppe sei bewußt gegen Krieg. Mehr je­doch als früher mehrten sich, ’nicht nur im VB, sondern auch bei der IdK, wie auch in anderen Vereinen.., die überzeugten Gegner jeder Ge­walt".

Siegmund-Schultze (1885 -1969) war 1914 Mit­begründer des Internationalen Versöhnungs- bun­des. Er überlebte das Dritte Reich im Schweizer Exil und trug nach 1945 viel zum Wiederaufbau der Friedensbewegung bei. Als Initiator und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft deutscher Friedensverbände (ADF) und der Zentralstelle für Schutz und Recht der Kriegsdienstverweige­rer wirkte er vor allem über die organisierte Interessenvertretung von Kriegsdienstverweigerern.

Den Geist aktiver Gewaltfreiheit trug insbeson­dere Pastor Wilhelm Mensching (1887 - 1964) in den Versöhnungsbund und in weitere christli­che Friedenskreise. Er hatte schon 1916 Gele­genheit, die gewaltfreie Befreiungsbewegung in Indien zu beobachten. (11) 1932 wurde er neben­amtlicher Geschäftsführer und Reisesekretär des VB. Während des Dritten Reiches veröffentlich­te er unter persönlichem Risiko im Quäker-Verlag eine Reihe von Kleinschriften gegen Rassenwahn und Intoleranz.

Andre Trocmé, europäischer Sekretär des IVB, berichtete Pfingsten 1946 in der Dorfkirche von Petzen bei Bückeburg (12), Menschings Kirchengemeinde, vom Mut der Dorfbewohner von Le Chambon-sur­-Lignon (Haute Loire), die während der deutschen Besatzungszeit Flüchtlinge versteckt und dabei 3000 bis 5000 verfolgten Menschen das Leben gerettet hatten, ein Verhalten, das Trocmé "christlichen Gandhianis­mus" nannte. Dann rief er dazu auf, in Deutsch­land einen "Mittelpunkt für Versöhnung und Friedensarbeit" zu schaffen. "Und das sollte hier geschehen, weil hier eine solche Arbeit von der Bevölkerung getragen wird." Diese Haltung der Gemeinde erfolgte aus Dank für die vielfältige Hilfe, die in der Region geleistet worden war, vermittelt durch Menschings Kontak­te zu Quäkern (13) und Versöhnungsbund-Freunden in den USA und England.
1948 wurde das Internationale Freundschafts­heim Bückeburg gegründet, das mit seinen aus­ländischen Referenten bei Seminaren und über die "Ausbildung zu Friedensarbeitern" eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Verbrei­tung der gewaltfreien Idee hatte. Wilhelm Mensching war beim Aufbau des Freundschafts­heimes von drei Vorbildern beeinflusst: den indischen As­hrams als Ausbildungsstätte für Satyagraha-­Freiwillige, den Quäker-Hochschulen und den skandinavischen Heimvolkshochschulen. (14)

Katholiken in der Friedensbewegung
Der Friedensbund deutscher Katholiken war in der Weimarer Republik der zahlenmäßig stärk­ste Friedensverband. Als er 1933 verboten wur­de, hatte er 31500 Mitglieder darunter Walter Dirks, Max Josef Metzger, P. Franziskus M. Stratmann. Seit 1945 erneut aktiv, löste er sich 1951 unter dem Druck des Episkopats auf, da die 1945 gegründete "Internationale Gebets­-Friedens-Gemeinschaft" Pax Christi besser in deren konservative Vorstellungen zu passen schien. (15)
In den FDK-Richtlinien von 1948 hieß es im­merhin schon:
’...muß an Stelle der kriegerischen Verteidigung die Abwehr durch passiven Widerstand ins Auge gefasst und moralisch wie organisatorisch vor­bereitet werden. Passiv ist dieser Widerstand nur insofern, als er auf militärischen Kampf ver­zichtet; moralisch und politisch aktiv ist er aber dadurch, daß er jede Zusammenarbeit mit dem Rechtsbrecher und Besetzer fremden Gebietes verweigert, wodurch die Beherrschung und Verwaltung eines Landes auf die Dauer unmöglich wird ( Beispiel: Indiens Befreiungskampf unter der Führung Mahatma Gandhis)”. (16)

Viele kritische Katholiken wie Nikolaus Koch oder Nikolaus Ehlen fanden später ihre politi­sche Heimat im katholischen Flügel des Ver­söhnungsbundes um die Zeitschrift “Der Christ in der Welt", die von Kaspar Mayr (1891-1963) bzw. seiner Tochter Hildegard Goss-Mayr her­aus- gegeben wurde. Dort wurden Anregungen u.a. aus den USA von den Catholic Workers oder aus Frankreich von der Arche-Gemeinschaft um Lanza del Vasto weitergege­ben.

Fortsetzung u.a.:
Entwicklung der gewaltfreien Bewegung in der Nachkriegszeit- Skizze, Teil II:
Westdeutschland 1950 - 1953
.

Entwicklung der gewaltfreien Bewegung in der Nachkriegszeit- Skizze, Teil III
1953-1955

Anmerkungen:
(1) vgl. den Vortrag von Konrad Tempel: Ansätze gewaltfreier Politik von unten in den ersten 15 Jahren der BRD" In: Dokumentation der Tagung "Gewaltfreie Politik in der BRD",1987. Am ausführlichsten beschreiben die Zeitzeugen Helga und Konrad Tempel 1997 die Entwicklung der Frühzeit der gewaltfreien Bewegung in Anfänge gewaltfreier Politik
Natürlich gibt es viele Detaildarstellungen. Dr. Hans Gressel hat z.B. viel über den Versöhnungsbund und das Internatio­nale Freundschaftsheim Bückeburg publiziert.
Günter Saathoff untersuchte in seiner Diplomarbeit die "gras­wurzelrevolution - Praxis, Theorie und Organisation des ge­waltfreien Anarchismus in der Bundesrepublik 1972- 1980”. Marburg, 1980
Der Politologe Matthew Lyons legte 1985 eine interessante Studie vor:
Matthew N. Lyons: The "grassroots" network"
Radical nonviolence in the Federal Republic of Germany 1972-1985
Zu wünschen wären weitere Arbeiten über die Geschichte der ge­waltfreien Bewegung in Deutschland, vergleichbar etwa mit der Darstellung der Bewegung in den USA:
“The Power of The People: Active Nonviolence in die United States” Ed.: Robert Cooney and Helen Michalowski, 1987, New Society Publishers, Philadelphia. sowie weitere Einzelstudien. Es liegen ausreichend spannende Unterlagen vor...

(2) Bisher befragte ich u.a.: Nikolaus Koch (1912 -1991). Gerda Meyer, Ilse Köhler. Rosel Lohse-Link, René Leudesdorff, Helmut Hecker, Arnold Haumann, Hans Gressel, Rolf Hinder, Helga und Konrad Tempel, Jürgen Grimm, Karl-Heinz Lange, Helga und Wolfgang Weber-Zucht, Theodor Ebert, Horst Bethmann, Reiner Steinweg, Christel Beilmann, Herbert Stubenrauch ..
Andere Zeitzeuglnnen wie Irmgard, Schuchardt, Trude Westhoff, Agnes Rösler, Helmut Hertling habe ich noch erlebt, aber leider vor ihrem Tod nicht befragen können. Dafür halfen oft Menschen‚ die die Verstorbenen gut kannten, mit Dokumen­ten und Informationen. Andere Zeitzeuglnnen in hohem Alter fühlen sich nicht mehr in der Lage zu konzentrierten Erinne­rungsgesprächen.
(3) “In Deutschland war bis zum Ende des Ersten Weltkrieges der sog. "Organisatorische Pazifismus" (vor allem DFG) vor­herrschend, für den das Recht auf nationale Selbstverteidi­gung selbstverständlich war und der individuelle Kriegs­dienstverweigerung ablehnte während die Verfechter des Ge­waltlosigkeitsideals dort nur eine Randgruppe bildeten.” In:Guido Grünewald: Die Internationale der Kriegsdienstgegner. Köln, 1982, S.7
Neben den größeren Friedensgruppen wie der Deutschen Frie­densgesellschaft‚ dem Versöhnungsbund‚ dem Frie­densbund deutscher Katholiken, über die es ausführliche Arbei ten im Rahmen der Historischen Friedensforschung gibt, sollte die Aufmerksamkeit auf die kleineren, wenig beach­teten Gruppierungen der Weimarer Republik gelenkt werden, für die Gewaltlosigkeit und Gesellschaftsveränderung eine besondere Rolle spielten.
(4) Dr. Theodor Michaltscheff writes from Hamburg. In: “The War Resister” Nr. 50, Sommer 1945.
(5) Vgl. Th. Michaltscheff: 20 Jahre Friedensrundschau und IdK. Persönliche Erinnerungen “Friedensrundschau 10/11”, 1966.
Gerd Biermann: Über Theodor Michaltscheff. In: Th. Mi­chaltscheff: Die unverwüstliche Opposition. Oldenburg 1994
(6) “Der Friedensbote” Mai/Juni 1948
(7) Wichtig für die Kontakte ins Ausland war u.a. Heinz Kra­schutzki (1891 - 1982), vor 1933 sowohl Mitglied des FdK als auch des radikaleren Hügels der DFG. Er kehrte 1946 aus dem Exil zurück und stellte als deutsches WRI-Ratsmitglied von 1947 -1961 eine wichtige Verbindung zur internationalen Friedensbewegung dar. So war er 1949 deutscher Delegierter bei der pazifistischen Weltkonferenz in Indien. Kraschutzki berichtete über seine Erfahrungen u.a. in der Friedensrund­schau, im Versöhnungsbund und im Internationalen Freund­schaftsheim Bückeburg.
(8) “Der Friedensbote”, Februar/ März 1948. Eine der ersten IdK -Broschüren (o.J) war Samar Ranjan Sen Ma:”Gewaltlosigkeit für Morgenland und Abendland” {{(9)}} Zur Geschichte des französischen Versöhnungsbundes (MIR) von 1946 und 1963 siehe Christian Baccuet: De l'Evangile  la non-violence. In: "Cahiers de la Réconcilia­tion”' . Heft 2/1993 (60.Jg.) Zu André Trocmé siehe Philipp Hallie: “...daß nicht unschul­dig Blut vergossen werde. Die Geschichte des Dorfes Le Chambon und wie dort Gutes geschah”. Neukirchen-Vluyn, 1983 sowie Hanna Schott: Von Liebe und Widerstand. Magda und André Trocmé . Neufeld Verlag Cuxhaven. 2011 {{(10)}} “Die Versöhnung”‚ Nr.1. Juni 1949. Dieser Vortrag sollte Grundlage werden für das zum Verständnis seines weiteren Wirkens grundlegenden Buches "Die moderne Revolution. {{Ge­danken der gewaltfreien Selbsthilfe des deutschen Volkes". Tübingen / Frankfurt 1951. (11)}} Wilhelm Mensching: "Gandhis Freiwillige / Erfahrungen in Indien", Bückeburg (o.J. vermutlich 1961) Vergl. Hans Gressel : "Wilhelm Mensching. Der Gründer des Freundschaftsheimes". 1948 -1973. Fünfundzwanzig Jahre Internationales Freundschaftsheim Bückeburg. Bücke­burg 1973. Dort auch “Aus den Schriften Wilhelm Men­schings”. (zusammengestellt von Wilhelm Ude) Die Klasse 10 der Herderschule in Bückeburg gewann 1999 im Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten über das Leben von Mensching und der Gründung des Freundschaftsheims . Das Ergebnis wurde veröffentlicht in der Broschüre "Pastor Wilhelm Mensching - ein Geistlicher mit Zivilcourage" {{(12)}} Trocmés Familie mütterlicherseits stammte aus Deutschland, sein Urgroßvater und Großvater waren in Petzen Pastoren gewesen {{(13)}} Die Quäker, die in den 30 Jahren in Deutschland ca 230 Mit­glieder hatten, engagierten sich in der Nachkriegszeit stark in humanitärer Hilfe. Ihr Beitrag beim Transfer von Erfahrungen und Gedanken zur Gewaltfreiheit aus dem angelsächsischen Raum ist beträchtlich. {{(14)}} Rudolf Daur, Stuttgart, gab ab Juni 1949 die Zeitschrift "Die Versöhnung" als gemeinsame Zeitschrift des Versöhnungsbundes, des Bundes der Köngener (aus der evangelischen Jugendbewe­gung), der Nothelfergemeinschaft der Freunde und des Freundschaftsheims heraus. {{(15)}} Im Herbst 1994 erinnerte Pax Christi mit einer Tagung an diese Tradition.  Vgl. dazu:  "75 Jahre katholische Friedensbewegung in Deutschland. Zur Geschichte desFriedensbundes Deutscher Katholiken´und von`Pax Christi´". Probleme des Friedens 2 / 1995. KOMZI Verlag, Idstein
(16) Als eines der ersten Nachkriegsbücher über M. K. Gandhi erschienen 1949 im katholischen Kyrios-Verlag‚ Meitingen, gegründet von Max Josef Metzger, die Erinnerungen der en­glischen Quäkerin Muriel Lester: "Weltbürger Gandhi". In ka­tholischen Verlagen der 50er Jahre wurden weitere Bücher wichtiger Persönlichkeiten der gewaltfreien Bewegung aus dem Ausland veröffentlicht, so:
Lanza del Vasto: "Pilgerfahrt zu den Quellen", Düsseldorf 1951
Dorothy Day: "Ich konnte nicht vorüber". Freiburg, 1957
Es ist amüsant zu lesen, wie sich der kirchliche Vorwort­schreiber um die Beurteilung der unbequemen gewaltfreien Anarchistin und Katholikin bemüht!

Nach einem Artikel in "Archiv Aktiv Aktuell" Nr. 1 Juli 1995