Wolfgang Hertle
Skizze der französischen Ökologiebewegung (Teil 2)
in den frühen 70er Jahren
On-line gesetzt am 8. März 2018
zuletzt geändert am 27. Januar 2024

Fortsetzung
Ökologie im Wahlkampf

Der Tod des Staatspräsidenten Georges Pompidou am 2. April 1973 stellte die Ökologiebewegung zwei Jahre früher als erwartet vor die Entscheidung, ob sie sich mit einem eigenen Kandidaten an den Präsidentschaftswahlen beteiligen solle. Diese Diskussion wurde noch erbitterter geführt als die vom November 1972. Bei einer Zusammenkunft der „Amis de la Terre“ („Freunde der Erde“) mit dem „Anti-nuklearen Komitee" in Paris empfahl Brice Lalonde „nützlich" zu wählen, d. h. bereits in der ersten Runde für den Sozialisten Mitterrand zu stimmen. Eine Minderheit sprach sich gegen jegliche Wahlbeteiligung aus. Diese Meinungsverteilung konnte jedoch nicht als repräsentativ angesehen werden, da die entschiedensten Gegner des Parlamentarismus unter den „Ökologisten“ gar nicht erst eingeladen wurden. Somit wird verständlich, weshalb ein Veteran von „La Gueule Ouverte“ von einem Putsch der „Freunde der Erde“ spricht, denen das System eine Gelegenheit bot, welche sie selbst zu schaffen nicht fähig gewesen wären.
Da die Meinung der Ökologiebewegung nicht auf demokratische Weise befragt worden sei, stritt die Gruppe um Mabille dem schließlich aufgestellten Kandidaten René Dumont kurzerhand das Recht ab, im Namen der Ökologiebewegung zu sprechen ...
Der durch seine Tätigkeit in der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO bekannt gewordene Ökonom René Dumont erreichte mit seinem unkonventionellen Wahlkampf - sein Hauptquartier war ein Hausboot auf der Seine mitten in Paris und die gesamte Arbeit wurde von unbezahlten Freiwilligen geleistet - einen Achtungserfolg von 337 000 Stimmen. Die breite Aufklärungsarbeit hatte zumindest die Wirkung, dass sich keiner der anderen Kandidaten einer Stellungnahme zu ökologischen Themen entziehen konnte. Allerdings ließ diese Kampagne auch eine Reihe von inneren Widersprüchen in der Ökologiebewegung aufbrechen, die sich heftig entluden, als am 15. und 16 Juni 1974 sich in Montargis 2500 Vertreter verschiedener Gruppen zur „Vollversammlung der Ökologischen Bewegung“ einfanden. Viele reisten enttäuscht und verbittert vorzeitig wieder ab, so sehr fehlten konstruktive Vorschläge, um die Zerstrittenheit wieder einer optimistischeren Solidarität weichen zu lassen.

Ein neuer Anfang: Marckolshelm

Am 8. und 9. Juli 1974 wurde In Straßburg die „Europäische Ökologiebewegung" gegründet, der sich von deutscher Seite der Bundesverband der Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU)" anschloss, ein wichtiger Schritt zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Die Versammelten hatten sich nicht träumen lassen, dass sich diese Kooperation am Oberrhein bald so sehr bewähren würde, wie sie bei den bald folgenden Bauplatzbesetzungen von Marckolsheim, Wyhl und Kaiseraugst bewiesen hat.

Mitten im langen Streik der französischen Post gründeten Anfang November 1974 einzelne Gruppen in lssy-les Moulinaux die „Ökologische Bewegung“ (Frankreichs), ein erneuter Anlass zu Streit: bereits die Namensgebung konnte den Anschein erwecken, es handele sich um den Zusammenschluss des größten Teiles der französischen Umweltschutzgruppen, in Wirklichkeit war der Versuch, ein so breites Bündnis zu schaffen, nicht ernsthaft unternommen worden.

Diesmal blieb nicht viel Zeit zur bewegungsinternen Nabelschau. Die Massenaktionen gegen das geplante Bleichemiewerk in Marckolsheim / Elsass gaben zu neuer Hoffnung Anlass und beeinflussten nicht nur spürbar die französische, sondern auch die deutsche und schweizerische Ökologiebewegung.

Der frische Aufwind kam also nicht aus dem Pariser Studentenmilieu, sondern aus der ländlichen und der konservativen Bevölkerung im Oberrheingebiet. Es erscheint angebrachter von Konservationismus als von Konservativismus zu sprechen, da eine solche Haltung gerade in Hinblick auf Umweltfragen den technischen Fortschritt weitsichtiger und konsequenter an der menschlichen Lebensqualität orientiert betrachtet als der übliche Wachstumsglaube und technikgläubige Pragmatismus.
Doch solche Begriffe greifen zu kurz, um die kritische Einstellung einer von den fernen Metropolen bis dahin unterentwickelt gehaltenen Provinz zu verstehen, die nun recht rücksichtslos in ein neues Ruhrgebiet verwandelt werden sollte. Die Widerstandsaktionen der alemannischen Bevölkerung im Dreiländereck würden die Absicht der jeweiligen Regierungen durchkreuzen, umweltfeindliche Industrien insbesondere im Grenzland anzusiedeln. Die Folgen würden sich zum großen Teil auch jenseits der Grenzen zeigen .

Als dieser fadenscheinige Trick durchschaut war, ergab sich die logische Konsequenz, dass sich die Rheinanwohner gemeinsam gegen die Industrialisierungspolitik der Regierungen in Paris, Bonn oder Bern wehren müssten. Von diesen fühlten sie sich in jeder Hinsicht weiter entfernt als von den Nachbarn - zumal die Verwandtschaft der Dialekte nationale Grenzen noch fragwürdiger erscheinen liess. Eine Ballung von Kernkraftwerken wäre der erste Schritt zur Anlage mehrerer Industriegürtel zwischen Karlsruhe und Basel, die quer über den Rhein hinweg geplant waren. Ja, noch mehr: eines Tages sollte sich eine Industrieachse entlang Rhein und Rhone von Rotterdam bis Fos-sur-Mer am Mittelmeer erstrecken und das Elsass wäre dann „ein Glied der zukünftigen ‚Megalopolis’, die sich ohne Unterbrechung von Holland bis Südfrankreich erstrecken würde" (19). Die insgeheim gegen Ende der 60er Jahre ausgearbeiteten Pläne traten in diesen Jahren, einer nach dem anderen, in ihre aktive Phase ein: der Rhein-Rhone-Kanal für große Frachten, die Autobahnen A 34, A 35, A 36, B 34, Flughäfen, Kernkraftwerke (Fessenheim, Marckolsheim, Sundhouse, Gerstheim, Lauterbourg usw.) .Am Anfang stünde „die totale Verkehrsanbindung als unverzichtbare Vorbereitung für die Versteigerung an die großen internationalen Gesellschaften, die expandieren wollen: Wasserwege, Straßen und Energiequellen“ (20) ....

Als im Dezember 1973 der Plan bekanntgegeben wurde, im Gebiet des „autonomen Hafen Straßburg" eine Fabrik der „Chemischen Werke München’ zu errichten, versprach sich die Bevölkerung des benachbarten Dorfes Marckolsheim neue Arbeitsplätze. Doch die anfängliche Sympathie verschwand völlig, als man neben den Informationen über die gesundheits- schädlichen Auswirkungen (die schon zuvor die Menschen in Kaiserslautern, Worms und Ramstein bewogen hatten, die Ansiedelung des Betriebes zu verhindern) erfuhr, dass es sich im günstigsten Falle nur um 140 bis 200 Arbeitsplätze handeln könnte.

Ein Dekret des Präfekten von Straßburg, Sicurani, hob jedoch im Juni 1974 die Entscheidung des Marckolsheimer Gemeinderates gegen den Bau auf und so blieb für die Bevölkerung nur noch der Weg des aktiven Widerstands offen. Am 28. Juli kamen zum ersten Mai Bauern der gesamten Region zu einer Traktoren - Demonstration zusammen. Auch am gemeinsamen Sternmarsch gegen das AKW Wyhl und das Bleiwerk Marckolsheim am 21. August in den Rheinauen bei Wyhl nahmen viele Elsässer teil. Die geographische Lage erwies sich als sehr günstig zur gegenseitigen Unterstützung, lagen sich doch die beiden Bauplätze, nur durch den Rhein getrennt, genau gegenüber. In einem gemeinsamen Flugblatt kündigten die 21 badisch-elsässischen Bürgerinitiativen die gewaltlose Besetzung der Bauplätze an, sobald mit den Bauvorbereitungen begonnen würde.

Trotz dieser öffentlichen Festlegung fiel der endgültige Beschluss erst am Ende einer erregten dreistündigen Sitzung der elsässischen Gruppen - nachdem die Baufirma bereits begonnen hatte, Gräben zu ziehen und einen Zaun zu errichten. Dem Bericht von Solange Fernex zufolge war es der Beharrlichkeit, dem Mut und der Überzeugungskraft eines Einzelnen Aktiven zu verdanken, dass der Widerstand der stärkeren Gruppe, die wegen des illegalen Charakters einer solchen Aktion zögerte. es gab auch vereinzelt die Skepsis derer, die gewaltlose Aktionen als zu schwach und passiv ansahen.
Freitag, 20. September, 7 Uhr morgens wurde zum Beginn der Besetzung bestimmt, da Werktätige am letzten Arbeitstag der Woche am ehesten bereit wären, ihren Arbeitsplatz ein paar Stunden früher zu verlassen. Die Wochenendausgaben der Presse informierten mehr Menschen und ermunterten sie zum Besuch des besetzten Platzes.

Nun konnte der von langer Hand vorbereitete „Bleialarm" ausgelöst werden: nachts wurden 20 000 Flugblätter in Hausbriefkästen gesteckt, Lautsprecherwagen fuhren auf beiden Rheinseiten durch die Dörfer. Um 10 Uhr morgens waren bereits über 100 Menschen auf dem Bauplatz versammelt. Die höflichen, aber entschlossen geführten Diskussionen mit den Bauarbeitern bewegten diese schließlich zur Arbeitsniederlegung. Im Nu waren 20 Zelte aufgestellt und der Bau von festen Hütten wurde begonnen. Da niemand Anzeige erstattete, griff die Polizei nicht ein, obwohl sie - in Zivil wie in Uniform - das Geschehen genau beobachtete. Am Sonntag strömten über 1000 Menschen auf den Platz. Zweiergruppen, in denen immer mindestens eine Person elsässisch sprechen können musste, brachen auf, um in allen Dörfern des Kantons nach Ende der Messe oder beim Frühschoppen eine Art „aktivierende Befragung“ durchzuführen. Spruchbänder, Stellwände und Diskussionsforen prägten den Charakter des Platzes, der sich bald mit Unterkünften, einer Kantine, Spielmöglichkeiten für die Kinder und einem Hühnerstall in ein provisorisches Dorf verwandelte.

Das Gelingen der direkten Aktion war schließlich gesichert, als am Montagmorgen Hunderte von Demonstranten endgültig die Wiederaufnahme der Bauarbeiten verhinderten. Von nun an übernahmen jeden Morgen je ein badisches und ein elsässisches Dorf die Platzwache. In jedem Dorf gab es einen Verantwortlichen, der u. a. im Falle eines Polizeieinsatzes in seinem Bereich für das Gelingen des Alarmplanes zu sorgen hatte: Mit Kirchenglocken und Feuerwehrsirenen sollte dann die Bevölkerung auf den Platz gerufen werden.

Der Bürgermeister von Marckolsheim schickte vorsorglich ein Telegramm an den Präfekten Sicurani, in dem er dringend darum bat, nicht mit Gewalt zu intervenieren, da die Stimmung der Bevölkerung überreizt sei. Sicurani versuchte durch die Sperrung der Grenzübergänge Saßbach und Breisach zu verhindern, dass jeden Tag zahlreiche Sympathisanten aus Baden die Besetzung tatkräftig unterstützten. Als diese jedoch mit dem Argument: „Die Grenze kann den Bleistaub nicht aufhalten, sie wird auch unsere Solidarität nicht aufhalten!" ihrerseits die Grenzbrücken mit Fahrzeugen blockierten, mussten die Behörden nachgeben und ab Freitag gab es keine Behinderungen des Grenzverkehrs mehr.

Im Juli waren 11 der 21 Marckolsheimer Gemeinderäte aus Protest gegen das Bleiwerk zurückgetreten, deshalb mussten am 13. Oktober Nachwahlen stattfinden. Sie führten zu einem unerwartet großen Sieg der ad-hoc aufgestellten Umweltschutzliste „Verteidigung der Interessen von Marckolsheim", die mit 76 % der Stimmen sämtliche Sitze im Gemeinderat erwarb. Der neue Bürgermeister, Leon Siegel, begab sich als erstes demonstrativ auf den besetzten Platz und der Gemeinderat kündigte dem Präfekten den Ungehorsam der „französischen Bürger von Marckolsheim" an. Am Wahltag besuchte auch Lanza del Vasto mit weiteren Mitgliedern der Arche-Gemeinschaft (20) die Besetzer und erklärte: „Wir sind die Verteidiger des Larzac und wehren uns gegen alle Agenten des Todes, gegen alle Formen der Umweltzerstörung". (21)

Die Theorie der Gewaltfreiheit war zwar im Elsass bekannter als z. B. in Baden, was aber nicht bedeutete, dass deshalb größere Gruppen der Bevölkerung ohne weiteres alle Konsequenzen dieser Einstellung übernehmen würden. Entscheidend war das glaubwürdige Beispiel und das Engagement der elsässischen gewaltfreien Aktivisten. Auch Mitglieder der gewaltfreien Aktionsgruppen in Freiburg und Lörrach lernten von ihnen in kurzer Zeit mehr, als sie sich vorher jahrelang theoretisch erarbeitet hatten. Das Training in gewaltfreier Aktion auf dem Platz mit Eric Bachman (22) trug zum inneren Zusammenhalt und zum Kennenlernen der aktiven gewaltfreien Widerstandsformen bei.

Mit der Kälte machte sich Anfang Dezember eine gewisse Müdigkeit breit und man feierte bereits mit Sekt den Sieg. Als sich die vorschnell verbreitete"frohe Botschaft" als „Ente" herausstellte, beschloss das „internationale Besetzerkomitee" zähneknirschend, die Besetzung solange durchzuhalten, bis die Regierung in Paris offiziell auf die CWM- Ansiedlung verzichtete. Sowohl Weihnachten als auch Neujahr wurde im „Freundschaftshüs" rund um das offene Feuer gefeiert, eine kleinere Gruppe führte vom 29. Dezember bis 1. Januar auf dem Platz eine Fastenaktion in Solidarität mit den Hungernden in der Dritten Welt durch.
Die endgültige Bestätigung des Sieges der Besetzer in der „Affäre Marckolsheim" durch einen Brief des Industrieministers Galley an den Oberbürgermeister von Straßburg Pflimlin Ende Februar 1975 konnte keine großen Begeisterungsstürme auslösen, weil kurz zuvor der Bauplatz für das Kernkraftwerk Wyhl gegen den Widerstand der Polizei wieder „erobert" worden war. Auch die Elsässer beteiligten sich an der zweiten Platzbesetzung worauf sich die Aktivitäten sowie das öffentliche Interesse dorthin verlagerte .

Da Marckolsheim inzwischen auch als zukünftiger Standort für ein AKW vorgesehen war, würde es sich erweisen müssen, ob der Sieg über CWM bleibende Folgen für das weitere politische Verhalten dieser Region hätte (23). Der Sieg wurde im August 1975 mit einem Erntefest jedenfalls im Bewusstsein gefeiert, daß der Kampf für eine menschenfreundliche Umwelt weiter geführt werden musste. (24)

Neue Energie für den Kampf gegen Atomkraftwerke

Als der Pariser Forschungsminister Ornano Ende November 1974 fünfzig weitere Standorte für AKWs bekanntgab, wirkte dies wie ein Startschuss zur Gründung zahlreicher neuer anti-nuklearer Aktionsgruppen und zur Intensivierung der bestehenden Komitees. Das Interesse von Presse, Funk und Fernsehen an diesem Thema nahm schlagartig zu, wenn auch oft genug im Sinne der offiziellen Energiepolitik.
...
Am 9. Januar 1975 traten 15 nationale Umweltschutzorganisationen gemeinsam an die Öffentlichkeit, um die Kommunal- und Regionalparlamente aufzufordern, die vorgeschriebenen Konsultationen zu boykottieren.
Dabei muss erwähnt werden, daß jedes Departement des französischen Mutterlandes (ausser Korsika und Poitou - Charente) mit mindestens einem AKW bedacht werden sollte. Am nationalen Aktionstag im Januar beteiligte sich eine Reihe von Gemeinderäten an den zahlreichen Demonstrationen.
Ausser im Elsass regte sich der Widerstand besonders stark in anderen Randgebieten Frankreichs, ob in der Bretagne( in Erdeven demonstrierten an Ostern 1974 15000 Menschen) oder in der Normandie (Flamanville), ob an der Gironde-Mündung bei Bordeaux (Braud–et-St. Louis) oder am Mittelmeer (Port-la-Nouvelle). In manchen Orten wurden offizielle Volksabstimmungen durchgeführt, die zu sehrunterschiedlichen Ergebnissen führten, z .B. in Flamanville für und in Port-la-Nouvelle gegen den Bau des AKWs.

Die Bauern und Austernzüchter von Braud–et-St. Louis erwarben sich durch ihre direkten und gewaltfreien Aktionen den Ruf, ein „anti-nukleares Larzac" geschaffen zu haben. Die staatlichen Elektrizitätswerke EDF hatten ohne Genehmigung mit dem Bau einer Zufahrtsstraße zum AKW-Gelände begonnen und dabei - ohne die Zustimmung der Bauern einzuholen - nicht nur Privatwege benutzt, sondern diese durch übermäßige Belastung stark beschädigt. Den Bauern gelang es zunächst, diesen Missbrauch zu unterbinden und sogar die Reparatur durch die EDF zu erstreiten. Auf dem Platz war bereits der meteorologische Messturm aufgestellt worden. Darauf hin besetzten Landwirte am 10. April 1975 die Baustelle, rissen die Betonpfähle der Umzäunung heraus, luden sie auf Lastwagen und kippten sie als handfesten Beweis für die illegale Vorgehensweise der E-Werke vor das Rathaus.
Die Frauen des Dorfes suchten den Bürgermeister auf und verlangten eine sofortige Stellungnahme des Gemeinderates. Während dieser tagte, ließ sich die ganze Dorfbevölkerung zum Sitzstreik rund um das Rathaus nieder. Schließlich erklärte der Bürgermeister, dass der Gemeinderat die Einstellung sämtlicher Bauarbeiten verlange und die Praxis der EDF als illegal verurteile. Daraufhin kehrte die Menge zum Bauplatz zurück und zwang die Arbeiter zum Abbau des Messturms und zur Rückversetzung des Platzes in den ursprünglichen Zustand.

Einige Tage später besetzte die Polizei den Platz, die Betonpfähle wurden wieder eingesetzt und der Messturm erneut aufgestellt. Am 11. Mai versuchten ca. 500 Personen den Platz gewaltfrei zu besetzen. Trotz des harten Einsatz von Schlagstöcken und Wasserwerfern durch die „gardes mobiles" wurde ein Großteil des Zaunes niedergerissen (25).

Zuvor hatten in der letzten Aprilwoche mehr als 40 000 Menschen innerhalb einer nationalen Aktionswoche anlässlich des „Europäischen (Pro-) Atomkongresses’ in Paris demonstriert. Aufgerufen durch die „Freunde der Erde", die „Ökologische Bewegung" und die linkssozialistische Partei PSU bewegte sich ein phantasievoll mit dekorierten Wagen, Fanfaren, Masken und Luftballons ausgestatteter Demonstrationszug durch die Pariser Innenstadt. Diese „weiche, friedliche" Demonstration entgleiste nur an wenigen Stellen, provoziert durch das überaus harte Eingreifen der Polizei. Aber es reichte, um im staatlichen Fernsehen zerschlagene Fensterscheiben einer Bank und verbrannte Autos zu zeigen, ohne dass auch nur im geringsten auf den Anlass der Demonstration eingegangen worden wäre. Es gab auf Seiten der Protestierer mehrere Verletzte durch Tränengas und Schlagstöcke, aber am Abend wurde dennoch zum Abschluss auf einem „square" ein ausgelassenes Volksfest gefeiert.

Auch in vielen Teilen der Provinz regte sich der anti-nukleare Widerstand. So drangen im nordfranzösischen Gravelines 3000 Menschen in die Baustelle des dortigen AKWs ein, indem sie den Stacheldraht durchschnitten. Kurz vor dem Eintreffen von 500 Bereitschafts- polizisten (CRS) gelang den Demonstranten ein taktischer Rückzug, um kurz darauf fünf Kilometer weiter den Rathausplatz von Gravelines zu besetzen. Auf dem Bauplatz war ein großes Windrad errichtet worden, um auf die Möglichkeiten alternativer Energiegewinnung hinzuweisen.

Trotz eines im allgemeinen umfassenden und radikalen Verständnis von Ökologie und einer an einigen Standorten breiten Unterstützung aus der Bevölkerung gelang bisher in Frankreich noch keine dauerhafte Besetzung eines Kernkraftwerksgeländes. Einer der Gründe dafür lag (und liegt) in der unnachgiebigen Haltung der französischen Regierung, die mit Polizeigewalt zu verhindern sucht, dass direkte Eingriffe der Bevölkerung in den Schlüsselbereich Energiepolitik ihre ehrgeizigen wirtschaftlichen Ziele vereiteln könnten. Mit der zentralen Bedeutung des Atomprogramms für die Aufrechterhaltung der “bestehenden Ordnung" und der scheinbaren Unwirksamkeit gewaltloser Massenmobilisierung begründeten jedenfalls die Untergrundgruppen ‚Puig Antich - Ulrike Meinhof" und „Kommando Garmendia - Angela Luther" ihre Sprengstoffanschläge auf das Reaktorgebäude in Fessenheim am 3. Mai und auf das Rechenzentrum Framatome in Courbevoie am 6. Juni.

Die Frage nach der Legitimität von Gewalt gegen Sachen wurde zu einem weiteren Streitpunkt innerhalb der ohnehin zerrissenen Ökologiebewegung. Während das CSFR seine Entschlossenheit betonte, die gewaltfreie Strategie beizubehalten und hierin von der PSU und der elsässischen CFDT unterstützt wurde, solidarisierten sich die „Freunde der Erde" in Paris und die „Ökologische Bewegung" mit den Aktionen der Untergrundgruppen. Die Zeitschrift „Combat Non-Violent“’ verteidigte in ihrer Nr. 67 Gewalt gegen Sachen, solange gewährleistet wäre, dass Personen nicht gefährdet wären.

Das CSFR hatte allen Grund, seinen Standpunkt unmissverständlich darzulegen, befand es sich doch inmitten der Vorbereitungen für die große internationale Demonstration am 25. Mai, als die Bomben in Fessenheim explodierten. Ein Kommuniqué betonte „Die elsässischen, badischen und schweizer Bürgerinitiativen ... haben sich zum Ziel gesetzt , der Bevölkerung die Gefährdungen durch die Atomindustrie, die im allgemeinen von deren Anhängern verniedlicht oder abgestritten werden, aufzuzeigen. Dazu haben sie sich permanent selbst informiert, um darauf die Öffentlichkeit zu informieren und zu sensibilisieren. Die Methoden der gewaltfreien Aktion, die sie seit Jahren gewählt und praktiziert haben, erscheinen ihnen am besten den Zielen zu entsprechen, die sie sich gesetzt haben. Wenn sie auch oft von den Herrschenden ignoriert werden, erfreuen sie sich doch auf Grund von Hartnäckigkeit und Opfern einer großen Zuhörerschaft und wachsender Sympathien. Wenn wir uns von den Bombenanschlägen distanziert haben, so bedeutet das natürlich nicht, daß wir uns mit den Herrschenden solidarisieren. Deren Verweigerung des Dialogs hat uns gezwungen, zu dieser neuen Demonstration aufzurufen.“ (26)

Neue Verbündete
Am Wochenende des 24. und 25. Mai 1975 fanden dann wieder zahlreiche Demonstrationen in allen Landesteilen Frankreichs statt, die größten waren die von Braud-et-St. Louis, wo sich 4000 Menschen trafen (die sich durch ein mitgebrachtes Windrad selbst mit Strom versorgten) und von Fessenheim mit 10 000 Teilnehmern. Das CSFR betrachtete diese Veranstaltung als ein Ultimatum, auf die eine „harte, gewaltfreie Aktion" folgen solle, falls der Bau der Reaktoren nicht umgehend eingestellt würde.
Neben Vertretern von Bürgerinitiativen und Aktionsgruppen aus Belgien, Luxemburg, Osterreich, der Schweiz und Deutschland sprachen vor allem Naturwissenschaftler. Unter ihnen auch einer der 400 Forscher, die im Januar die Bevölkerung aufgefordert hatte, sich gegen den Bau von AKWs zu wehren, solange sie nicht völlige Klarheit über alle Gefahren und Folgen dieser Einrichtung gewonnen hätten. In den drei Monaten bis zur Demonstration in Fessenheim hatten sich diesem Aufruf mehr als 2000 Wissenschaftler angeschlossen, ja ihn zur Forderung nach sofortigem Stopp der massiven Entwicklung der Nuklearindustrie ausgeweitet. (27)

Nicht nur die Stellungnahmen der Wissenschaftler zeigen, dass der Widerstand gegen das Kernenergieprogramm der französischen Regierung bis „in die Höhle des Löwen" vorgedrungen ist; gerade die in den Gas- und Elektrizitätswerken sowie im Atomenergie- kommissariat CEA arbeitenden Gewerkschafter der CFDT formulierten die stärksten Zweifel gegenüber der „politique tout nucléaire". Die Atomanlagen von La Hague und Marcoule wurden von ihnen von Anfang März bis Ende April 1975 durch einen Streik lahmgelegt. Die Haltung war nicht in allen Sektionen der linkssozialistischen Gewerkschaft gleich und so grundsätzlich ablehnend wie bei den im CNRS (Nationales Forschungszentrum) arbeitenden CFDT- Mitgliedern, die am 15. März darauf hinwiesen, dass es sich nicht nur um ein technisches, sondern vor allem um ein politisches Problem handle. Sie warnten vor einer "hyperzentralisierten Polizeigesellschaft’, die für die Durchführung des Atomprogramms entstehen müsste" (28)... Die der Kommunistischen Partei nahestehende CGT Gewerkschaft ging in ihrer Kritik nicht so weit, sondern forderte die Nationalisierung aller Firmen der Atomindustrie. Dies verwies auf die entgegengesetzten Bestrebungen der Regierung. Unter dem Druck insbesondere amerikanischer Firmen, wie Westinghouse oder General Electric, die heute schon die Energiepolitik maßgeblich beeinflussen, suchte die Regierung diesen Bereich zu privatisieren. ….

„Wenn es in der Bewegung einen Aspekt gibt, der verdient besonders unterstrichen zu werden, dann ist es der ständige Aufruf zum Fest. Ob auf dem Larzac, in der Rheinebene oder an den Ufern der Loire: die ökologischen Massendemonstrationen sind immer auch Volksfeste“ (29). An Stelle todernster und steriler Demonstrationsformen sollten angesichts der tödlichen Bedrohungen mit lockeren und kreativen Formen des Feierns die Kräfte des Lebens betont werden. Der "ökologische Sommer" 1975 war besonders stark durch diese politischen Volksfeste gekennzeichnet, nachdem die Larzac - Bauern, ermutigt durch den Erfolg der großen Demonstrationen der beiden vorausgegangenen Jahre, die Parole ausgaben: „Larzac ist überall !“. Die Verteilung auf 10 Großveranstaltungen zwischen Juni und September führte dazu, dass weder in Braud-et-St. Louis noch in Fontevraud oder Port-la-Nouvelle (hier seien nur die wichtigsten genannt) die Rekordzahl von 103 000 Teilnehmern des Erntefestes 1974 auf dem Larzac erreicht werden konnte. Andererseits ergab sich so eine stärkere regionale Wirkung.

Es könnte noch von vielen kleinen Aktionen berichtet werden, wie z.B von den Besetzungen mehrerer Büros der Elektrizitätswerke, von den Blockaden normannischer Häfen durch Fischer, die gegen die zunehmende Meeresverschmutzung protestierten, von der Kampagne gegen das Prestigeobjekt Concorde oder von den Protesten gegen die Stationierung von Pluton-Raketen in der Gegend von Belfort-Montbéliard.

Aber dieser Versuch, einen ersten Überblick zu geben, kann nicht eine notwendige ständige Berichterstattung ersetzen und muss hier an einem willkürlich gewählten Zeitpunkt abbrechen.. . .

Anmerkungen

(18) Claude Mabille: Wird die ökologische Partei auch einen Ordnerdienst haben? In : Alternatives Non Violentes, Lyon Nr. 5- 6. 1974
Dumonts Wahlprogramm wurde vor allem vom Elsässer Henri Jenn geprägt, der bei den Legislativwahlen im März 1973 in Mulhouse 2,9 % und bei den Kantonalwahlen im März 1976 10,6 % der Stimmen erhielt.
(19) Larzac, Wyhl, Brokdorf, Seabrook, Gorleben ... Grenzüberschreitende Lernprozesse Zivilen Ungehorsams http://castor.divergences.be/spip.php?article450
(20) Solange Fernex: Marckolsheim - une lutte exemplaire In: Combat Nature, Paris. Nr.18, Februar 1975, S.3.ff.
(21) Le Monde vom 15. 10. 1974.
Albrecht Schmelzer: Die Arche. Experimente einer Gesellschaft ohne Gewalt. Waldkirch, 1977. Die Arche hatte entscheidenden Einfluss auf die Einigung der Bauern im südfranzösischen Larzac, sich gewaltfrei gegen die Vertreibung durch die Armee zu wehren.
(22) https://www.sourcewatch.org/index.php/Eric_Bachman
Joanne Sheehan / Eric Bachman: Seabrook, Wyhl, Marckolsheim.
In: War Resisters’ International (Hg.) Handbuch für gewaltfreie Kampagnen. Verlag graswurzelrevolution, 2017
(23) Relativ gut verfolgen ließ sich die Entwicklung in den elsässischen Volkszeitungen: Usem Follik, Strasbourg; Klapperstei 68, Mulhouse, und in der Zeitschrift des CSFR: IONIX
(24) Johannes Wehr, „Erntefest in Marcko", In: graswurzelrevolution, Nr. 17. Oktober 1975
(25) “La Population passe à I’ action directe“, Braud-et-St-Louis Informations, April 1975
( 26) La Gueule Ouverte, 21. Mai 1975.
(27) Le Monde, 7. 6. 1975. Der zweite Aufruf der „Gruppe der 4OO“ wurde mit einer ausführlichen wissenschaftlichen Begründung in La Gueule Ouverte Nr. 54, 21. 5. 1975 veröffentlicht,
(28) Le Monde 25/24. März 1975. Die Stellungnahmen sind in politique hebdo Nr. 168 , 27. März bis 9. April 1975 nachzulesen.
(29) France de Nicolay: “Panorama des livres, revues et associations écologiques“
In: Preuves Nr. 19, 1974 S. 37 ff


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