Wolfgang Hertle
Törichtes und Menschliches
Eindrücke von der zweiten Bauplatzbesetzung in Wyhl
On-line gesetzt am 30. Januar 2018
zuletzt geändert am 31. Oktober 2023

Am 18. Februar 1975 besetzten badische und elsässische Atomkraftgegner den Bauplatz des geplanten Kernkraftwerks bei Wyhl (Kaiserstuhl). Frauen, Kinder und Männer stellten sich vor die Baumaschinen und brachten diese zum Stillstand, um ihre bedrohte Heimat zu schützen.

Eine erste Räumung durch ein großes Aufgebot an Polizei folgte am 20. Februar. Die untergehakt singenden Besetzer wurden aus dem Gelände im Wald entfernt .
Am darauf folgenden Sonntag, den 23. Februar fand im Rheinauewald eine Großdemonstration statt. Nach der Demonstration durchbrach die Menge einen Polizeicordon und besetzte das Gelände für rund neun Monate. Diese von der Bevölkerung getragene Protest verhinderte den Bau des AKW Wyhl und führte überregional zum Aufschwung der Anti-AKW-Bewegung, die maßgeblich den Ausstieg aus dem Atomprogramm in Deutschland herbeiführte.
Wolfgang Hertle beobachtete einige Szenen bei der zweiten Besetzung, die zeigen, dass einige "Radikale" beinahe den Erfolg der Aktion verhindert hätten.

Sowohl bei der ersten Platzbesetzung in Wyhl als auch bei der gewaltsamen Räumung durch die Polizei war von der protestierenden Bevölkerung die konsequente Gewaltvermeidung durchgehalten worden. In die zweite Platzbesetzung mischte sich, wenn auch glücklicherweise als Ausnahmeerscheinung, der eine oder andere physische Angriff von Demonstranten auf die Beamten. Dies kann nur zum Teil durch provozierendes Verhalten der Bereitschaftspolizei erklärt werden, sondern wurde auch durch Fehler der Kernkraftwerksgegner verursacht.

Nach der Demonstration am Freitagabend beschlossen Vertreter der Bürgerinitiativen in einer Geheimsitzung einen Besetzungsplan, der dann durch Flüsterpropaganda an „Vertrauenswürdige" weitergegeben wurde. Die Geheimhaltung hatte etwas von einer Farce an sich. In einer Weisweiler Gaststätte konnte ich ohne größere Mühe alles Wesentliche erfahren. So ist es um so erstaunlicher, daß die Polizei, zumindest ihrem Vorgehen nach zu urteilen, doch nichts erfahren zu haben scheint.

Auf der geplanten Großkundgebung sollten die zahlreich erwarteten Sympathisanten das Groß der Polizeikräfte an die Umgebung der „NATO-Rampe" binden. Dies ist ein breiter gepflasterter Landeplatz am Rhein, auch heute wieder der Hauptzugang zum besetzten Bauplatz. Damals war dieser Wyhl zugewandte Teil des Bauplatzes besonders stark mit Stachel bzw. Panzerdraht abgeschirmt worden. Hier fand zwischen Räumung und zweiter Platzbesetzung pausenlos „Feindberührung" statt. Das war eine Mischung aus Beschimpfungen und freundlichen Gesprächen, die zuweilen ihr Ziel: Zermürbung oder Fraternisierung, erreichten. Ein Stoßtrupp sollte nun von der entgegengesetzten Seite mit einem tragbaren Lautsprecher in den Platz eindringen und dann von innen die Kundgebungsteilnehmer zum Sturm auf den Bauplatz auffordern.

Der Plan wurde schon kurz nach Bekanntwerden von einem Teil der Gewaltfreien Aktion Freiburg kritisiert. Die Aktion sei zu wenig vorbereitet; es fehle die völlige Öffentlichkeit, verantwortliche Ordner. In einer unübersehbaren Situation könne der gewaltfreie Charakter der Aktion leicht gefährdet werden. Aber die Zeit war zu kurz, um wesentliche Änderungen zu erreichen. Man war gezwungen, zu versuchen, das Bestmögliche aus der Aktion zu machen.

Am Sonntag gegen 14 Uhr, kurz vor der Großkundgebung trafen sich etwa 80 Personen in Weisweil und fuhren dann gemeinsam in Pkw über Forstwege, deren mit Schlössern versperrte Barrieren die Weisweiler zu öffnen wussten, zu einem Parkplatz am Rande des Baugeländes. Der Platz war in zwei Zonen eingeteilt und die Gruppe drang zunächst in den Teil ein, der erst wesentlich später bebaut werden sollte und im Gegensatz zum zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun der inneren Zone nur mit einem einfachen, niedrigen Draht umgeben war. Eine gewisse Feierlichkeit beim Durchschneiden des Drahtes wich bald einem Tatendrang, als die ersten Holzpfähle aus der Erde gezogen und Blechschilder mit der Aufschrift „Privateigentum - Betreten verboten" eingesammelt wurden.

Ein Weisweiler wollte gleich zu Beginn eine kleine Rede halten, aber seine Mitbesetzer waren ungeduldig; er musste sich mit der Aufzählung von Verhaltensmaßregeln begnügen. Die Gruppe legte ein paar hundert Meter Weg durch den Wald zurück, bis sie auf einem Querweg in Richtung Rhein stieß. Es war wohl der erste Fehler, diesen Weg einzuschlagen, anstatt geradewegs in Richtung auf die gerodete Stelle im Inneren der von Polizei besetzten Zone vorzudringen. Als ein Polizeiwagen auf einer Routinefahrt den Demonstranten entgegen fuhr, spielte sich eine Szene jener Autoritätsfixierung ab, die häufig auch bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei zu beobachten ist: Die Beamten waren überrascht und wandten sich nicht an die Ankömmlinge, sondern nahmen über Funk Kontakt mit der vorgesetzten Stelle auf. Doch die meisten Demonstranten versuchten durch eine Sitzblockade den Wagen an der Weiterfahrt zu hindern. Einige wenige beschimpften die Polizisten und versuchten, die Autoreifen zu durchstechen. Statt dessen hätte man die „Autorität" auch nicht beachten und schlicht umgehen können. Nun aber holten die Polizisten ihre Schäferhunde aus dem Wagen und erzwangen sich die Durchfahrt. Außerdem hatte die Einsatzleitung nun endgültig einen Vorwand, größere Abteilungen gegen die Besetzer zu mobilisieren. Aber nichtsdestoweniger ging die Gruppe weiter den Weg entlang, bis sie sogar den Platz wieder verlassen hatte. An einer Wegbiegung, die vom Hintereingang des befestigten Platzes durch die Polizei eingesehen werden konnte, blieb sie sogar stehen, um sich noch eine Ansprache anzuhören!

Als die erste Truppe junger Bereitschaftspolizisten anmarschierte, stemmte man einen ausgedienten VW-Bus quer über den Weg, was aber höchstens eine Verzögerung von wenigen Minuten erreichen konnte, bis sich die beiden Gruppen direkt gegenüberstanden. Etwa 15 Minuten drängelte man sich relativ harmlos hin und her.

In der Zwischenzeit waren auf dem Damm vor dem Rhein immer mehr Neugierige von der Nato-Rampe her erschienen und einige von ihnen begannen über eine Behelfsbrücke einen Altrheinarm zu überwinden, um den von der Polizei Aufgehaltenen zur Hilfe zu eilen.
Beim Versuch der Polizei dies zu verhindern, spielten sich die einzigen Gewaltszenen der ganzen Besetzung ab: Demonstranten wurden ins Wasser geworfen, was diese mit Steinwürfen beantworteten. Doch der „Stoßtrupp" war noch so mit der Polizei beschäftigt, daß er den Ernst der Lage erst erkannte, als der erste Polizist mit einer Schläfenwunde vorbei getragen wurde. Bis dahin trugen die Bereitschaftspolizisten noch Filzmützen; nachher benutzten sie ihre Helme. Nun versuchte eine Gruppe von Gewaltfreien aus Freiburg, Hamburg, Berlin und dem Elsass die Situation zu beruhigen, indem sie sich zwischen die Fronten stellte. Die Aufforderung, die Steinwürfe im Sinne der gemeinsamen Sache zu beenden, wurden teilweise durch Kollaborationsvorwürfe beantwortet. Selbst ein bekannter Sprecher der Bürgerinitiativen, der im selben Sinne zu wirken versuchte, wurde von der anderen Uferseite her beschimpft. In Gesprächen stellte sich später heraus, daß eine ganze Anzahl von KPD- und KBW - Anhängern mit Bussen angereist war und ungeachtet ihrer Unkenntnis der örtlichen Voraussetzungen ihre Art „revolutionären Kampfes" durchsetzen wollte. Wir waren selbst überrascht, wie schnell der Einsatzleiter der Polizei auf unser Angebot einging, uns dafür einsetzen zu wollen, daß keine „Bullenjagd" mehr stattfände. Wir wollten die Demonstranten beruhigen, wenn er seinerseits den Befehl zum Rückzug gäbe. Als er dies über sein Megaphon durchsagte, bestärkte das natürlich das Misstrauen der auch unsanft behandelten Demonstranten gegen uns, aber wir dämpften die Erregung für eine kleine Weile.

Nun endlich trat ein, was von Anfang an hätte zielstrebig versucht werden sollen und was wahrscheinlich die Steinwürfe und deren spätere publizistische Auswertung durch die Polizei verhindert hätte: Die Polizeisperren wurden umgangen und in breiter Front drangen die Demonstranten in den Platz ein. Stacheldraht, Unterholz und Altrheinarme waren ebenso kurzfristige Verzögerungen wie die immer hilfloser werdende Polizeikette, die Schritt für Schritt zurückgedrängt wurde, bis sie schließlich ganz nachgab und den Platz räumte, ohne auch nur einen Bruchteil ihres Arsenals (Wasserwerfer, Hunde, Tränengas usw.) benutzt zu haben. Bisher habe ich noch nicht erfahren können, wie es gelungen war, die riesigen Drahtsperreri von der NATO- Rampe her zu überwinden, aber auch von dieser Seite her rannten Menschen auf den Platz und überall fielen sich Besatzer in die Arme oder tanzten lachend aus Freude über den Erfolg.
Wie sagte doch Wolf Biermann in „Genossen, wer von uns wäre nicht gegen den Krieg":

„Das Beste aber: Polizisten, abgerichtet gegen das Volk wenn sie im Strom der empörten Massen durch die Straßenschluchten geschwemmt ertrinken. Und endlich ergreifen sie statt ihrer Waffen die rettende Hand der Waffenlosen!"

Am Ende der Kundgebung auf der Nato-Rampe hatte Meinrad Schwörer die 15000 bis 22000 (je nach Schätzung der Polizei oder der Bürgerinitiativen) Teilnehmer aufgefordert, einen Spaziergang auf dem Naturlehrpfad entlang dem Bauplatz zu unternehmen, den er selbst im Auftrag seiner Gemeinde angelegt hatte. Es war dies also keine Aufforderung zur Platzbesetzung, aber sie schien, von denjenigen, die seiner Aufforderung folgten, so verstanden worden zu sein. Es bleibt die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn eine oder mehrere Personen ganz eindeutig die Verantwortung übernommen hätten und ebenso klare Verhaltensmaßnahmen für diese direkte Konfrontation mit der Staatsgewalt gegeben hätten. Aber außer der Furcht vor Strafverfolgung war es vor allem die Unsicherheit in den eigenen Reihen (ob man es wagen sollte, und wenn ja, ob es nicht zu einem Desaster führen würde), die dies verhinderte. So kam es eben auch vor, daß ältere Menschen, Kinder und neugierige Zuschauer mitgerissen wurden und plötzlich Polizisten gegenüberstanden, ohne sich vorher dafür entschieden zu haben.

Wenn es schließlich zu einem relativ günstigen Ausgang kam, so war dieser doch auf eine gehörige Portion Glück, auf die internen Mißstimmungen der Polizei (zwei Hundertschaften Bereitschaftspolizei sollen sich am Morgen geweigert haben, überhaupt zum Einsatz nach Wyhl zu fahren) und vor allem auf die große Anzahl von Besetzern zurückzuführen, denen sich die „Verteidiger" des Platzes nicht mehr gewachsen fühlten.
Die Sympathisanten aus den gewaltfreien Aktionsgruppen Freiburg, Zürich, Berlin und Hamburg waren voll damit beschäftigt, als „Feuerwehr" in besonders kritischen Situationen das Schlimmste zu verhindern. Als informelle Ordner hatten sie sich rund um den-Platz verteilt - im schlimmeren Falle ein Tropfen auf den heißen Stein. Außer der allgemeinen besseren Vorbereitung wurde vor allem eine gut ausgebildete und zahlenmäßig starke Einsatzgruppe" vermisst.

Besonders auffallend an den ganzen Ereignissen war für mich die Beeinflussbarkeit der Polizisten, der man in Zukunft besondere Aufmerksamkeit schenken sollte. Der Zufall wollte es, daß ich einen jungen Polizeibeamten in drei verschiedenen Situationen beobachten konnte. Am Samstag sah ich ihn über den Stacheldraht hinweg mit KKW -Gegnern diskutieren. Ja, es gäbe Grund zum Protest. Er fühle sich unwohl, wenn er so gegen einen Großteil der Bevölkerung eingesetzt werde. Vielen seiner Kollegen ginge es ähnlich. Aber ... er hätte Vertrauen zur parlamentarischen Demokratie und zur Unabhängigkeit der Gerichte. Vor allem aber sähe er keine Möglichkeit und nicht genügend Grund, sich Befehlen zu verweigern.

Das nächste Mal traf ich ihn wütend an der oben genannten Behelfsbrücke. Man hatte soeben einen verwundeten Kollegen abtransportiert. „Wenn ich den erwische, der den Stein geworfen hat, den schlage ich krankenhausreif!" sagte er zu mir und bog seinen Gummiknüppel zusammen.

Eine halbe Stunde später war der Platz besetzt, der Einsatzleiter hatte Befehl zum Rückzug gegeben und Bauern schoben sogar einen Polizeianhänger vom Platz, um den Abzug der Ordnungshüter zu beschleunigen. Da traf ich den Polizisten wieder, diesmal mit einer Filzmütze; er wartete auf den Mannschaftsbus. Er war wie ausgewechselt, sehr freundlich und meinte: „Gott sei Dank, daß dieser Spuk vorbei ist! Ich freue mich, nach Hause fahren zu können und den Sonntagabend mit meiner Familie zu verbringen."

Einige Wochen später wurde in einem Dorf ein Film über die Bauplatzbesetzung in Wyhl gezeigt, in dem auch eine Steinwurfszene vorkam. Der Vorführer kommentierte, daß die Bürgerinitiativen die Gewaltanwendung bedauerten und erklärte, daß man gegen die Funktion der Polizeibeamten, nicht aber gegen sie als Mensch vorgegangen sei. Darauf erhob sich im Saal ein Mann und sagte. „Ich bedanke mich dafür, daß sie diese Einstellung betont haben, denn ich bin nicht nur ein Gegner der Kernkraftwerke, sondern auch Vater eines der eingesetzten Polizeibeamten."

Man kann nicht einfach von gewaltfreien Akteuren verlangen, daß sie Polizisten gegenüber furchtlos sein sollen, denn wer könnte schon von sich behaupten, in Konfliktfällen keine Angst zu haben. Aber man muss sich auch im klaren sein, daß es für die zu erkämpfende Sache genauso gefährlich sein kann, wenn man den Konflikt vermeidet, als wenn man zum Mittel der Gewalt greift.

Zuerst veröffentlicht in gewaltfreie aktion – Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit Nr.24/25 2.+3. Quartal 1975

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< s Eige zeige> Jahrbuch des Landkreises Emmendingen für Kultur und Geschichte 29/2015
Siebenunddreißig Wyhl-Geschichten
ISBN 978-3-926556-30-7