Dokumentation
Was bedeutet „Graswurzelrevolution"?
aus Nr. 1 / 1972 der Zeitschrift graswurzelrevolution
On-line gesetzt am 11. Februar 2018
zuletzt geändert am 4. November 2023

Vorbemerkung der Redaktion „gewaltfreie aktion“ - Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit, in Heft 13/14, 3.+4. Quartal 1972:

Im Sommer dieses Jahres begann die Basisgruppe „Gewaltfreie Aktion Augsburg" mit der Herausgabe einer neuen Zeitschrift zur Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit mit dem Titel „graswurzelrevolution" und dem Untertitel „Zeitschrift für gewaltfreie, sozialistische Gesellschaftsveränderung durch Macht von unten". Die „gewaltfreie aktion" hat schon in der vergangenen Zeit mit den Freunden in Augsburg zusammengearbeitet und wird das auch weiterhin tun. Theodor Ebert schrieb anlässlich der ersten Nummer u. a. an die Redaktion. „Ich würde mich freuen, wenn es Ihnen gelingen würde, diese Zeitschrift regelmäßig und in kurzen Abständen herauszubringen. Sie könnte dann eine sehr wichtige weitere Zeitschrift zur gewaltfreien Aktion und zur Anregung von Basisaktivitäten werden. Meiner Ansicht nach brauchen wir eine große Vielfalt von Zeitschriften, die sich mit den Problemen der gewaltfreien Aktion befassen, da jede Zeitschrift notwendigerweise eine gewisse Spezialisierung vornehmen muß und eine gewisse Verengung des Blickfeldes auftritt."

An dieser Stelle drucken wir nun den programmatisch zu verstehenden Einführungsartikel der ersten Nummer:

Das GWR-Redaktionskollektiv ist es seinen Lesern schuldig, den Namen der Zeitung zu erklären. Das Bild der Revolution, die von den „Graswurzeln" ausgeht, bedeutet zunächst, dass die Macht von der Basis auf einer möglichst breiten Ebene ausgehen soll, um demokratisch von unten eine neue Gesellschaft aufzubauen. Den Unterdrückten wird zunächst geholfen, sich der verschiedenen Arten von Gewalt bewusst zu werden, denen sie ausgesetzt sind: indem Aktionsgruppen aufklären und bestehende (wenn auch oft verdeckte) Konflikte dramatisieren. Nach der Schaffung des Problembewusstseins geht es darum, das Selbstbewusstsein der Betroffenen zu stärken und ihnen ’gefühls- und verstandesmäßig klar zu machen, dass ihre besch... Situation nicht „vom Schicksal gegeben" und damit unveränderbar ist, sondern dass es Kreise gibt, die aus den bestehenden Verhältnissen Profit schlagen. Sie müssen spüren (z. B. anhand von bereits von anderen durchgeführten Aktionen und mit der Hilfestellung unserer Aktivisten, die sich aber soweit wie möglich im Hintergrund halten und vor allem technische Tips geben sollten), daß sie ihre Sache in die eigene Hand nehmen und so ihre Lage aktiv verändern können. Ähnlich wie Bürgerinitiativen werden so Selbstorganisationen, Basis- und Aktionsgruppen entstehen, die sich mit untereinander äußerlich sehr verschiedenen Aufgaben beschäftigen: Mieteraktionen, Betriebsgruppen, Umweltschutz, Antimilitarismus, Lebensmittel- und Produktionskooperativen, Schüler- und Lehrlingsgruppen, Jugendzentren, Dritte-Welt-Hilfe, Roter Punkt (Nulltarif für öffentliche Verkehrsmittel), Kritischer Konsum (Kritik der Vergeudungsgesellschaft und Alternativen), Hilfe für Gastarbeiter und andere Minderheitengruppen, alternative Kindergärten, Schulen, Presse, Amnestie für politische Gefangene, etc.

Gemeinsam haben diese Initiativen an vielen Punkten den Kampf gegen alle Arten von Gewalt mit gewaltfreien Mitteln.

So wie viele einzelne Graswurzeln einen frischen Rasen ergeben, arbeitet auch das Geflecht der Aktionsgruppen daran, langsam (?)‚ aber sicher die Gesellschaft in Richtung der gewaltfreien Gesellschaft zu verändern und neben der Kritik an den bestehenden Verhältnissen sich heute schon zumindest in Ansätzen so zu organisieren, wie später die Gesellschaft insgesamt sein soll.

Dies ist der Unterschied sowohl zu den reformistischen Bürgerinitiativen, als auch zu den Revolutionsgruppen, die glauben, daß eine kleine bewusste Minderheit die Macht ergreifen und die Wirtschaftsordnung ändern muss, bevor man an die Umerziehung der Massen herangeht.

Wir wissen zwar, daß unsere Wirtschaftsordnung (ähnlich wie die Praxis des sogenannten „Sozialismus" in den Ostblockländern) das Selbstbewusstsein der Lohnabhängigen zerstört, sie seelisch aushöhlt, indem sie zu Zahnrädern im Produktionsmechanismus gemacht werden und sie an der vollen Entfaltung der Persönlichkeit hindert. Deshalb halten wir eine radikale Änderung der Wirtschaftsorganisation für unumgänglich und sehen deutlich die Gefahr, daß durch Reformen die Mißstände mit Hilfe äußerlicher Kosmetik verschleiert und die Ausbeutungsmaschinerie sogar noch geölt werden kann. Andererseits wissen wir auch, daß eine echte Revolution (das heißt die völlige Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen) nur gelingen kann, wenn im Prozess der Umwälzung das „sado-masochistische Prinzip", d. h. das Bedürfnis einer Minderheit, jemandem zu befehlen, und das der Mehrheit, jemandem gehorchen zu können, überwunden wird.

Wenn breiteste Bevölkerungsschichten bewusst werden (die Revolution also zuerst in den Herzen und Köpfen stattfindet) und sie dann aktiv beginnen, ihre Lage und damit die Lage aller; die unter dem System leiden, zu ändern, dann schwindet erstens die Gefahr, daß nach der Revolution nur die Gesichter der Herrschaft Ausübenden ausgetauscht sind, aber keine Selbstbestimmung erreicht wurde (wie nach allen bisherigen Revolutionen); und zweitens ist nur so die Möglichkeit gegeben, den beste-Wenden Gewaltmechanismus ohne Gewalt abzuschaffen.

Erreichen die Basisgruppen erste Ziele, so erhöht das ihre „Kampf"moral. Sie wissen, daß das „System" eine ganze Reihe von Änderungen ohne Veränderungen seines Kerns vertragen kann und werden auch weitere Ziele in Richtung der Gewaltfreien Revolution stecken. Stoßen sie auf die Grenzen des „Systems" (kann die Gesellschaft die geforderten Änderungen nicht mehr integrieren), so ist der Beweis geliefert, daß das System als Ganzes überwunden werden muss. Weil die Basisgruppen keine revolutionäre Perspektive haben, sind diese Schwierigkeiten für sie kein Grund zur Resignation, sondern Grund für noch stärkere Anstrengungen, um den Willen der Basis durchzusetzen.

Internationale Demonstration im Vatikan für die inhaftierten Kriegsdienstverweigerer in Spanien

Die meisten marxistischen Gruppen behaupten, es sei sinnlos, vor der Änderung der Wirtschaftsordnung an die Änderung der zwischenmenschlichen Beziehung und des persönlichen Lebensstils heranzugehen, denn das „Sein bestimmt das Bewusstsein" und gerechtere materielle Bedingungen machen den Menschen auch sozialer. Diese Haltung erklärt, warum ihre Aktionsformen und Parolen so steril sind, und wie sich neue Dogmen bilden konnten. Andererseits fordern frustrierte Sozialisten und viele Liberale genau die umgekehrte Reihenfolge: Wenn die Menschen einmal die persönlichen Probleme gelöst und im kapitalistischen System neue Formen des Zusammenlebens gefunden haben, „wird das vom Profitstreben diktierte Wirtschaftssystem von alleine zusammenbrechen". Es ist sicher anerkennenswert, wenn solche durchaus radikal zu Nennende ganz aus der Leistungsgesellschaft herausspringen und, „um weder ausgebeutet zu werden, noch ausbeuten zu müssen", selbst auf ihrem Acker anbauen, was sie brauchen. Aber politisch und sozial isolieren sie sich und nehmen sich selbst jede Möglichkeit, ihre Umgebung zu verändern.

Die „Graswurzelrevolutionäre" glauben, daß weder das eine noch das andere zuerst getan werden muss, sondern dass politische Arbeit zur Änderung des Wirtschaftssystems gleichzeitig mit der „Kulturrevolution" und der Lösung der Probleme des Einzelnen vorangetrieben werden muss. Kommunen, Kooperativen und jede Art von Alternativeinrichtung erleichtert es den Revolutionären, politisch zu arbeiten und den Geist des Zusammenlebens in der Neuen Gesellschaft heute schon mit Leben zu erfüllen.

Beide genannten Wege haben ein gleiches Ziel. Geht man aber nur jeweils den einen oder den anderen, kommt man nie an. Wir wissen, daß man seine ganze Lebenskraft für einen der beiden Wege geben könnte. Aber um die persönliche Verarmung ebenso zu verhindern wie die Wahl zwischen Isolation (persönliche Entfaltung, aber außerhalb der Gesellschaft) oder Integration (die Gesellschaft kann es sich leisten, einigen zu erlauben, nach ihrem eigenen Stil zu leben), fordern wir das „Sowohl als auch" anstatt das „Entweder-Oder". Theodor Ebert schreibt in seinem Artikel: „Basisgruppen im revolutionären Prozess":

„Im angelsächsischen Sprachbereich wird immer häufiger der Terminus ‚grass root revolution’ gebraucht, um den fundamental demokratischen Charakter eines revolutionären Prozesses zu verdeutlichen, der simultan (=gleichzeitig) und nicht nacheinander die soziale, moralische und politische Revolution zu realisieren sucht’."

Wir sind uns bewusst, daß hier hohe Anforderungen gestellt werden, denen man nur in gemeinschaftlichem Handeln in aktiver Liebe gerecht werden kann. Es ist eben leichter, seinen Willen durch eine Diktatur als durch echte Demokratie durchzusetzen. Genauso fordert eine gewaltfreie Gesellschaftsveränderung mehr Kraft als eine durch Gewalt. Wer die bestehenden Verhältnisse passiv hinnimmt, macht sich schuldig, weil er nicht gegen die Gewalt kämpft, die von den Strukturen des Systems ausgehen. Gewaltfreie Arbeit, die sich durch Bewegung an der Basis niederschlägt, ist in den gegenwärtigen Verhältnissen die realistischste Möglichkeit, wirklichkeitsnäher und wirksamer als verbale Gewalttätigkeit frustrierter Revolutionäre im selbstgewählten Untergrund.

Siehe auch:
Was heisst graswurzelrevolution ?
Dokumentation des Selbstverständnis-Flugblatts vom Dezember 1973

Graswurzelrevolution in der Bundesrepublik
Dieser Text über die Graswurzelbewegung erschien 1978 in der Zeitschrift Vorgänge.

Wolfgang Hertle
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