Was heisst graswurzelrevolution ?
Dokumentation des Selbstverständnis-Flugblatts vom Dezember 1973
On-line gesetzt am 5. Juni 2017
zuletzt geändert am 1. November 2023

Der folgende Text war einer der ersten Versuche der Graswurzelbewegung, ihre Ziele zu definieren, anderthalb Jahre nach dem Erscheinen der Nullnummer im Juli 1972 in Augsburg.
Ich würde mich freuen, Meinungen und Erinnerungen über die Entwicklung der gewaltfreien Bewegung und der Zeitung graswurzelrevolution zugeschickt zu bekommen, sei es zum Austausch zwischen ZeitzeugInnen oder zur Veröffentlichung.
Wolfgang Hertle

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist geprägt durch ihre Gewalttätigkeit, die jeder täglich aufs Neue und auf verschiedene Weise zu spüren bekommt: sei es in der Schule und Universität durch ideologische Indoktrination und Leistungsdruck, sei es in Betrieb durch Arbeitshetze und den Zwang, Arbeit zu verrichten, auf deren Verwendung wir keinen Einfluss haben und deren Wert uns nicht zugute kommt, sei es im Freizeitbereich durch die allgemeinen Preissteigerungen und das Fehlen von Sozialeinrichtungen (Kindergärten, Spielplätze, Schulen, Gesundheitsfürsorge usw.) oder durch die Zerstörung der Umwelt.

Der moderne Staat hat alle Gewaltmittel an sich gerissen, um die Herrschaft der Wenigen über die Vielen abzusichern. Er zwängt uns ein in ein System von Gesetzen und Regeln, das uns daran hindern soll, unsere Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen und unser Glück selbst zu bestimmen. Der Einsatz von Polizei gegen Demonstranten, streikende Arbeiter und Häuserbesetzer und die Verurteilung politischer Gegner "im Namen des Volkes" beweisen, daß der Staat nicht davor zurückschreckt, seine Gewaltmittel gegen diejenigen einzusetzen, die er zu schützen vorgibt: die Menschen, die ihre Interessen erkannt haben und entsprechend handeln.
Die Bedrohung und Einschüchterung durch die staatliche Gewalt ist so wirksam, daß noch immer weite Teile der Bevölkerung in ohnmächtiger Apathie verharren und davor zurückschrecken, sich gegen ihre Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Angst ist zum beherrschenden Element unserer Existenz geworden: sie durchzieht unser Verhalten nach außen und hat ihren Einfluss auf unsere persönlichen Beziehungen zu anderen Menschen.

Wir haben Angst, dem Meister und Chef die Meinung zu sagen; wir haben Angst, im Seminar oder beim teach-in den Mund aufzumachen, weil wir glauben, nicht gut reden zu können vor so viel "klugen" Leuten; wir haben Angst, unsere kleinen Vorrechte und Vorteile einzubüßen; wir haben Angst, daß uns der/die Andere eine Chance vor der Nase wegschnappt; wir haben Angst, unseren Arbeits- oder Studienplatz zu verlieren und wir haben nicht weniger Angst, unseren Freund/unsere Freundin zu verlieren, weil wir glauben, wir müssten Leistungen erbringen, um geliebt zu werden - bloß da zu sein, das sei nichts! Also halten wir stille, passen uns so weit wie möglich an und vermeiden alles, was uns vordergründig schaden könnte. Gleichzeitig sehnen war uns nach Geborgenheit und Sicherheit und verfallen dem Trugschluss, sie von einem System zu erwarten, das uns beides weder geben kann noch dazu gewillt ist, sondern uns im Gegenteil physisch kaputt macht und psychisch zu Neurotikern werden lässt.

Was heisst «graswurzelrevolution»?
Die Revolution, die von den "Graswurzeln" ausgeht, d.h. von der Basis her, sehen wir als die Strategie zur Überwindung dieser vielförmigen herrschenden Gewalt und zum gleichzeitigen Aufbau einer herrschaftslosen, gewaltfreien Gesellschaft. Ihr haften - in knapper Formulierung - fünf Merkmale an.

1. Selbstorganisation
Der erste Schritt besteht in der Selbstorganisation der Unterdrückten überall dort, wo sie die herrschende Gewalt konkret und unmittelbar erfahren: z.B. in Form von Mieteraktionen, Betriebsgruppen, Umweltschutzaktionen, .Jugendzentren, Rote Punkt-Aktionen, Kritischer Konsum usw. In diesen Aktionen werden die Betroffenen erfahren, daß ihre Lage nicht schicksalhaft gegeben, sondern veränderbar ist durch gemeinsames solidarisches Handeln. Stoßen diese Initiativen auf die Grenzen des Systems und stellt sich heraus, daß die Gesellschaft die geforderten Änderungen und Bedürfnisse nicht mehr integrieren kann, so ist der Popanz "demokratische Grundordnung" demaskiert, ist der Beweis geliefert, daß das System als ganzes überwunden werden muss, kann der Keim des revolutionären Bewusstseins zu wachsen beginnen.

Wie viele einzelne Graswurzeln einen frischen Rasen geben, so werden die revolutionären Basisgruppen zu einem lebendigen Geflecht zusammenzuwachsen, das eine Gegenmacht von unten zur Überwindung der Macht der Herrschenden entwickeln wird. Die Selbstorganisationen der Unterdrückten sind die"Graswurzeln der Revolution" (und Gras hat nicht nur die gute Eigenschaft, daß es überall wächst, sondern es ist auch äußerst widerstandsfähig und hat im Vergleich zu seinen Halmen die längsten Wurzeln).

2. Gewaltfreie direkte Aktion
Parlamentarismus und Wahlen sind der größte und zugleich raffinierteste Massenbetrug, den uns die bürgerliche Demokratie beschert hat - und er war so wirksam, daß die Arbeiterbewegung u.a. an der Frage zerbrochen ist, ob sich der Sozialismus an der Wahlurne und übers Parlament einführen lässt. Die Entwicklung des parlamentarischen Systems zu seiner heutigen Form hat die Scharfsichtigen von damals mehr als bestätigt, die hinter der formaldemokratischen Fassade des Parlaments eine großangelegte Manipulation und Gängelung des Volkes erblickten.

Als Antwort auf die Anpassungspolitik und Verbürgerlichung der sozialdemokratischen Parteien und die Verbürokratisierung und Stalinisierung weiterer Organisationen der Arbeiterbewegung sowie auf die Verkümmerung der Gewerkschaften zu reinen "Lohnerhöhungsmaschinen" wurde von den revolutionären Syndikalisten zu Beginn dieses Jahrhunderts die Strategie der direkten Aktion entwickelt. Beschränkten diese sich in der Anwendung ihrer Kampfmethoden(z.B. Streiks, Sabotage) alleine auf den Produktionssektor, so gehört es heute zur Aufgabe der sozialistischen Bewegung, die syndikalistischen Kampftechniken auch auf den Freizeitbereich auszudehnen und zur Strategie der gewaltfreien direkten Aktion weiterzuentwickeln.

Als Maßstab für die Gewaltfreiheit einer Aktion haben dabei nicht die bürgerlichen Gesetze und Gerichte zu dienen, sondern stets die Frage, ob durch die Aktion Menschen getötet oder verletzt werden und ob sie sich durch die konkrete Utopie einer herrschaftslosen Gesellschaft legitimiert; Merkmal für die Direktheit einer Aktion gilt, daß sie allen Beteiligten in jeder Phase des Kampfes die Chance zur gleichberechtigten Teilnahme an den Entscheidungsprozessen bietet. Nur auf diese Weise werden die Abhängigen und Unterdrückten lernen, im Kollektiv als Einzelne zu handeln und in der Aktion ihre soziale Lage zu begreifen.

Das Volk braucht keine Volksvertreter: es kann sich und seine Interessen selbst vertreten. Es hat auch keine Parteien nötig, die vom Kirchturm aus vorgeben, "für" oder "im Auftrage" des Volkes zu sprechen oder zu handeln und daraus einen "Führungsanspruch" ableiten.

3. Gleichzeitigkeit von politischer, sozialer und kultureller Revolution
Ebenso wie wir es ablehnen, der politischen Machtergreifung Vorrang vor der sozialen Revolution zu geben, so können wir auch die psychische Selbstbefreiung und die Überwindung der Ängste, die uns daran hindern, ohne neurotische Widerstände zu lieben, nicht von der revolutionären politischen Arbeit trennen. Die Revolution in ihren politischen, sozialen und kulturellen Formen muss vielmehr gleichzeitig statt nacheinander erfolgen. Mehr als frühere Revolutionen wird die Graswurzelrevolution auch und vor allem die Herzen und Köpfe der Menschen erfassen müssen, denn Revolution ohne Emanzipation ist nicht nur Stückwerk(Gandhi), sondern auch Konterrevolution (Duhm).

4. Gewaltfreiheit
Die Graswurzelrevolution ist für uns nur als gewaltfreie Revolution denkbar, denn wir sind überzeugt, daß eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft nicht mit den Mitteln der Gewalt geschaffen werden kann. Die gewaltfreie direkte Aktion in ihren vielfältigen Formen wird verhindern, daß sich Unterdrückung und Mechanismen der Herrschaft in der revolutionären Bewegung und der neuen Gesellschaft von neuem einstellen. Gewaltanwendung ist keine Garantie für den Sieg der Revolution, im Gegenteil: zwischen den angestrebten Zielen und den eingesetzten Mitteln besteht ein unzertrennlicher Zusammenhang: Mittel werden immer gemäß den Zielen gewählt, und Ziele werden stets in den Mitteln sichtbar. Denen, die unsere Position für unrealistisch halten und meinen, die Menschen könnten erst nach der Revolution gewaltfrei leben,
erwidern wir: wenn wir nicht schon heute konsequent an der Gewaltfreiheit festhalten, dann wird der Tag niemals kommen, an dem wir lernen, ohne Gewalt zu leben. Die Wurzeln der Zukunft liegen im Hier und Heute, in unserem Leben und in unseren Aktionen.

5. Aufbau von Alternativen
Die sozial-revolutionäre Bewegung muss in ihrem Lebensstil, in ihrer Kultur und in der Politik ihres Kampfes das Wertesystem der neuen sozialen Ordnung bereits soweit wie möglich verkörpern. Die künftige revolutionäre Gesellschaft darf unserer Ansicht nach nicht zur bloßen Utopie verkümmern, die irgendwann einmal, an. einem nicht genau vorhersehbaren Tag, plötzlich Wirklichkeit wird – sie muss vielmehr schon hier und jetzt existieren! Im Wertsystem, den Lebensstil, der Kultur, dem alltäglichen Kampf der revolutionären Bewegung und in den freien alternativen Institutionen, deren Aufbau sie gleichzeitig mit der Entmachtung und Zerschlagung dem repressiven Systems planmäßig betreiben muss. Aus den Trümmern des Alten wird nicht automatisch und von selbst das Neue hervorgehen; mit seinem Aufbau muss heute begonnen werden: durch Alternativeinrichtungen auf allen Lebensbereichen, z.B. Kommunen, Nahrungsmittelkooperativen, freie Kliniken, freie Schulen, selbstverwaltete Jugendzentren, alternative Presse usw.

"Welche Organisation steckt denn dahinter?“ werden wir immer wieder gefragt, wenn wir die graswurzelrevolution verkaufen. HINTER UNSERER ZEITUNG STEHT KEINE ORGANISATION! Niemand, kein Parteitagsbeschluss, kein Zentralkomitee und kein Vorstand - hat uns beauftragt, die Zeitung zu machen und zu tragen. Wir machen sie, weil wir es für.eine wichtige Aufgabe halten, nicht nur Anarcho-sozialistische Ideen und dies und das "unters Völkchen" zu bringen, was in In- und Ausland passiert (Dein Völkchen dienen), sondern auch, um Kommunikationsflüsse unter Genossen in Gang zu setzen, Praxistipps weiterzugeben und Erfahrungen auszutauschen. Das ist natürlich umso eher möglich, je mehr Initiative Ihr entwickelt und aus der Konsumentenhaltung heraustretet. -

Wir - das ist eine handvoll von Gruppen und "vereinzelter Einzelkämpfer" links unten in Berlin und der Be-err-dee, die sich kennengelernt und zueinandergefunden haben in zwei Kampagnen: Ende 1972 die Solidaritätskampagne mit den inknastierten spanischen Kriegsdienstverweigerern und einem Genossen, der von den Franco-Schergen verhaftet worden war, als er aus demselben Grund in Barcelona demonstriert hatte; und im Sommer 1973 die Greenpeace-Kampagne zur Mobilisierung der Öffentlichkeit gegen die französischen Atombombenversuche.

Was mit Solidaritätsaktionen im internationalen Rahmen und vornehmlich antimilitaristischer Zielsetzung begonnen hat, soll nun im innenpolitischen Bereich mit gesamtgesellschaftlicher Perspektive fortgesetzt werden. Die organisatorische Zusammenarbeit und horizontale Kommunikation auf der Grundlage einer - allerdings noch zu beschließenden Plattform - soll vorangetrieben und der Arbeitsbereich über den Antimilitarismus hinaus ausgedehnt werden (Stadtteilarbeit, Umweltschutz, Kampf dem Konsumterror usw.)

Uns schwebt eine Organisation vor, die ihren Halt in den Herzen und Köpfen der Menschen findet, die sie verbindet, und deren Existenz sich in ihrer solidarischen Zusammenarbeit manifestiert - statt in Satzungen, Geschäftsordnungen, Vorstandswahlen und Funktionärstum; eine Bewegung, die uns und die Umstände bewegt, in der wir revolutionär arbeiten können und gleichzeitig lernen, miteinander zu leben, zu lieben, unsere Fähigkeiten allseitig zu entwickeln, Initiative zu ergreifen, schöpferisch zu sein, Frustrationen zu überwinden - kurz eine Bewegung, die wenigstens ansatzweise das widerspiegelt, was unser Ziel ist: eine Gesellschaft, in der Alle ohne Zwang und Herrschaft leben können.

Die Graswurzelrevolution ist so gut wie Deine Mitarbeit!
Wir - das sollten aber nicht nur diejenigen sein, die augenblicklich die Zeitung tatsächlich machen, sondern auch ihr, die ihr die Zeitung lest. Es ist zwar einfach, in der Haltung des Konsumenten zu warten, was andere produzieren und dann schimpfen zu können, daß die Zeitung nicht Euren Bedürfnissen entspricht. Aber wir können Euch nur bitten, uns Eure Ideen, Vorschläge und Eure Kritik(in Form von Artikeln, Informationen, Grafiken usw.) zu schicken. Es gibt s000 viele Möglichkeiten, die Zeitung zu Eurer Zeitung zu machen. Die Graswurzelrevolution ist so gut wie Deine Mitarbeit!

"WAS HEISST GRASWURZELREVOLUTION ?"
Extrablatt der graswurzelrevolution - Libertär_sozialistische Zeitschrift für gewaltfreie Gesellschaftsveränderung durch Macht von unten. 1. Auflage(1.-5.Tsd.) Dezember 1973
Verantwortlich für dieses Flugblatt ist die Gesellschaft, die seine Verbreitung notwendig macht; i.S.d.P.: Michael Schroeren und Wolfgang Hertle, ( 1 Berlin 62, Gesslerstr. 2 - Adresse schon lange nicht mehr gültig- WH)
Weitere Exemplare dieses Flugblatts können bei uns für zirka 5 Pfennige pro Stück plus Porto bestellt werden.

Gründung der Graswurzelwerkstatt Ostern 1974 im Internationalen Freundschaftsheim Bückeburg

Siehe auch:
Graswurzelrevolution in der Bundesrepublik?

Broschüre: Selbstdarstellung der Graswurzel-Werkstatt (zuletzt in Köln) anlässlich der Verleihung des Erich-Mühsam-Preises 1993

Und wo steht die Graswurzelbewegung heute?
Meinungen, Erinnerungen und Vorschläge sammelt wolfgang.hertle chez gmx.de