RWE hatte gewarnt, die Polizei war mit tausend Beamten angerückt – es war extrem unwahrscheinlich, dass die Anti-Kohle-Aktivisten es an diesem Samstag im August tatsächlich bis zu den riesigen Baggern schaffen würden. Am Ende gelangten einige sogar auf die Ungetüme, die sich im Rheinischen Braunkohlerevier durch die Landschaft fressen.
Aus Lützerath und Garzweiler von Eva Mahnke
Bagger und Förderbänder im Tagebau Garzweiler stehen still. Gestoppt von mehr als eintausendfünfhundert Menschen, die den Fortgang des Klimawandels so dramatisch finden, dass sie bereit sind, zivilen Ungehorsam zu leisten. Das Rheinische Braunkohlerevier des Energiekonzerns RWE ist die größte Kohlendioxidquelle Europas.
Leo (Name geändert – d. Red.) ist einer von den tausendfünfhundert. Zusammen mit anderen aus Deutschland und mehr als 40 weiteren Ländern ist der Endzwanziger ins Klimacamp nach Lützerath unweit der Tagebaukante gereist. An diesem Samstag lässt er sich um halb sechs wecken. Der Morgen ist diesig, die Stimmung im Camp angespannt. Leo steckt seinen blonden Haarschopf aus dem Zelt, tappt heraus und zieht den weißen Schutzanzug an. "Ende Gelände" steht darauf, der Name der heutigen Aktion, zu der ein breites Bündnis schon seit dem vergangenen Herbst mobilisiert.
"Herzlich willkommen, die Aktion ’Ende Gelände’ beginnt jetzt", tönt es aus einem Megafon. Es ist kurz nach halb sieben. Ein Zug weißer Anzüge setzt sich in Bewegung. Vor dem Camp stört nur ein einsames Polizeiauto die morgendliche Idylle. Zwischen den Weißgekleideten und ihrem Ziel liegt die Autobahn A61, die sich nur an einigen Unterführungen und Brücken überwinden lässt.
Die Polizei hat eintausend Beamte im Einsatz, ein Hubschrauber kreist schon seit vier Uhr morgens in der Luft. RWE hat hunderte Security-Leute für die Verteidigung des gigantischen Braunkohlekraters in Stellung gebracht. Angesichts dessen ist völlig unklar, das gehen soll mit der Tagebaubesetzung. Die Gegenstrategie der Ungehorsamen: Der Zug spaltet sich in vier verschiedene "Finger" mit jeweils mehreren hundert Menschen auf – in der Hoffnung, dass ein Teil es in die Grube schafft. Leo marschiert im "pinken Finger".
Klimabewegung hat neue Dimension erreicht
Schon bevor feststeht, ob es an diesem Tag ein Einziger bis an die Bagger schafft, ist klar: Die Klimabewegung hat nach der enttäuschenden Erfahrung der gescheiterten Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen eine neue Dimension erreicht. Nicht allein, weil sich Organisationen und Strömungen aus sehr unterschiedlichen politischen und aktivistischen Zusammenhängen auf den Konsens einer gemeinsamen friedlichen Aktion zivilen Ungehorsams geeinigt haben. Auch große Umweltverbände wie BUND und Naturfreunde sowie das Kampagnennetzwerk Campact erklärten sich solidarisch.
Der Marsch in den Tagebau stellt einen wichtigen Bezugspunkt für die Bewegung in Europa dar. Er ist das größte Event vor dem Pariser Klimagipfel, von dem sich viele Aktivisten, die mit Leo an diesem Samstagmorgen von der großen Wiese des Klimacamps loslaufen, allerdings nicht viel erhoffen. "Aber auch wenn in Paris tatsächlich etwas beschlossen wird, müssen wir uns als Bewegung sichtbar machen", findet Leo. "Nur so kann der Diskurs verändert werden. Die Beschlüsse müssen ja am Ende auch umgesetzt werden." So denken viele, die nun auf dem Weg zum Tagebau sind.
Wandel braucht breitere Bündnisse
Der "pinke Finger" marschiert auf Feldwegen vorbei an taunassen Äckern, begleitet von Sprechchören und Anti-Kohle-Liedern. Ohnmächtig fühlen sich die Demonstranten nicht angesichts der Übermacht von Polizei und RWE-Security. "Ich fühle mich gerade total mächtig, dass ich hier bin", sagt Leo, "wir werden irgendeinen Effekt erzielen und allein das ist schon wertvoll."
Leo ist Psychologe und beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Frage, unter welchen Bedingungen man Menschen dazu bringen kann, sich nachhaltig zu verhalten. Soziale Bewegungen sind für ihn ein entscheidender Baustein eines gesellschaftlichen Wandels hin zu mehr Ökologie und sozialer Gerechtigkeit. Dass "Ende Gelände" von einem solch breiten Bündnis getragen wird, findet er enorm wichtig. "Es braucht breite Bewegungen für den gesellschaftlichen Wandel."
Ein Teil dieser Bewegung hat sich für die friedliche Konfrontation entschieden. "Gleich sind wir an der Autobahn", sagt Leo, "das wird der erste Prüfstein sein." Was auch immer geschieht: Er und die fünf anderen aus seiner Bezugsgruppe, die sich wie alle anderen im Vorfeld gebildet hat, wollen möglichst zusammenbleiben und gut aufeinander aufpassen.
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Wie erwartet ist die schmale Durchfahrt der ersten Autobahnunterführung blockiert. Polizeibusse und etwa 15 Polizisten versperren den Weg. Einer der Beamten filmt, um Beweismaterial zu sammeln, wie es überall Polizisten an diesem Tag tun. Ein paar der Demonstranten versuchen, zwischen Polizeibus und Tunnelwand durchzuklettern, werden aber sofort rabiat aufgehalten.
Pfefferspray-Salven gehen durch die Luft, einige werden getroffen. Leo, der weiter hinten im Zug läuft, sieht nur aus der Entfernung, was passiert, ist unsicher, ob der "pinke Finger" dennoch den Durchbruch versuchen wird. Der aber zieht sich erst einmal zurück.
Sprechchöre: What do we want – Climate Justice!
Weiter geht es über den Feldweg entlang der Autobahn. Links oben dröhnen die Autos vorbei, unten neben dem Sonnenblumenfeld macht die Sambagruppe Stimmung. "What do we want?", brüllt einer. "Climate Justice!", skandiert die Menge zurück. "When do we want it?", geht es weiter. "Now!"
Den Aktivisten geht es nicht nur darum, dass RWE im Rheinland Menschen aus ihren Dörfern vertreibt, die Luft verschmutzt und den natürlichen Wasserhaushalt zerstört – es geht es auch um die Menschen in weit entfernten Ländern, die am stärksten unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben, weil ihnen Dürre, Fluten und Meeresspiegelanstieg die Lebensgrundlage rauben. "Hier, wo ich lebe, wird es keine so großen klimatischen Veränderungen geben", glaubt Leo. "Aber global hat der Klimawandel verheerende Auswirkungen." Das werde sich auch auf die Migrationsbewegungen auswirken. "Der Klimawandel ist auch ein krasses soziales Problem. Die Frage ist, ob die Erde so erhalten bleibt, dass die Menschheit weiter friedlich miteinander leben kann."
Auch RWE nur ein Baustein in einem größeren Gefüge
An der nächsten Unterführung dasselbe Bild: Polizeibusse und Polizisten versperren den Weg. Diesmal zieht die pinke Fahne einfach vorbei. "Wir haben gerade keine Lust, mit der Polizei zu spielen", ertönt es aus dem Megafon. Ein Akkordeonspieler stellt sich kurz vor die Polizisten und spielt im weißen Anzug vergnügt sein Lied.
Eigentlich sind die Grenzen längst gesprengt. Zwei Tage zuvor, am 13. August, war der diesjährige "World Overshoot Day", der Weltüberlastungstag. Seit diesem Tag übersteigt die Nachfrage der Menschheit nach Ressourcen die Fähigkeit des Planeten, diese nachhaltig bereitzustellen. Auch die Fähigkeit der Ökosysteme, die emittierten Treibhausgase aufzunehmen, fließt in die Berechnungen ein. Selbst der Riesenkonzern RWE ist nur Baustein in einem größeren Gefüge. Der Konzern bedient den riesigen Energiehunger einer konsumorientierten Gesellschaft.
Auch das wollen die, die in Richtung Tagebau rennen, versuchen zu ändern: durch weniger eigenen Konsum, Bildungsarbeit, politisches Engagement oder wissenschaftlich wie Leo. Er engagiert sich seit zwei Jahren auch für die Degrowth-Bewegung, in der sich die Wachstumskritiker organisieren. Unter dem Motto "Degrowth konkret – Klimagerechtigkeit" war die Degrowth-Sommerschule in diesem August für sechs Tage auf dem Klimacamp zu Gast. Auch darüber findet ein neues Spektrum von Menschen Zugang zur Anti-Kohle-Bewegung. Diese wird umgekehrt bereichert um Ideen für Alternativen zu Wachstumswahn, Profitorientierung und Konsumsucht.
Auch durch das Örtchen Jakerath, das schon bald direkt an der Tagebaukante liegen wird, ziehen die Weißgekleideten auf der Suche nach einem Weg über die Autobahn. Eine Aktivistin "entfernt" Wahlplakate, auf denen der CDU-Mann Wolfgang Spelthahn verspricht, "das Ganze im Blick" zu haben. Als Landrat ist er oberster Chef des heutigen Polizeieinsatzes – und erst vor wenigen Wochen als Aufsichtsratsmitglied bei RWE Power zurückgetreten.
Durchschlupf an einer Autobahn-Baustelle
Nach Jakerath sind schon einige Kilometer straffen Fußmarschs geschafft. Nun kommt ein Stück Landstraße – noch stellen sich den Klimaschützern hier keine Polizisten in den Weg. Dann der Ausbruch nach links. Die Böschung hinunter geht es über die Ebene gen Tagebau, hinter dem das Kraftwerk Frimmersdorf seine Rauchwolken in die Atmosphäre bläst.
Noch immer aber liegt die Autobahn zwischen dem "pinken Finger" und dem Braunkohlekrater. Eine Möglichkeit, das Hindernis zu überwinden, tut sich über die Autobahnbaustelle auf. Hier soll die A61 verlegt werden, weil die bisherige Strecke dem Tagebau weichen muss. Jetzt rennen alle, versuchen schneller als die Polizei an der Brücke zu sein. Den meisten gelingt es. Nur ein paar Beamte sind vor Ort, kraxeln von unten mühsam die Böschung hoch.
Die wenigen Polizisten versuchen umso brutaler, die Hunderte aufzuhalten, die über die Brücke strömen. Gewaltsam gehen sie mit Schlagstöcken und Tränengas gegen Einzelne vor. Menschen werden zu Boden gedrückt. Im Zickzack um die Polizisten herum versuchen die Aktivisten, durch die Lücken zu schlüpfen und den Pfefferspray-Salven zu entgehen. Gebrüll, Geschrei und Chaos.
Leo ist schnell, rennt mit dem "pinken Finger" weiter, stolpert und schlittert zusammen mit den anderen den Abhang von der Straße hinab und hastet über die Felder in Richtung der jetzt schon sichtbaren Tagebaukante.
Auch an der Zufahrt in den Tagebau sind nur wenig Polizisten. Der Zug der Ungehorsamen schlägt einen Haken durch eine Wiese, rennt die Abfahrt hinab direkt auf die riesigen Förderbänder zu, die die abgebaggerte Erde abtransportieren. In der Ferne sieht man schon einen der gigantischen Abraumbagger. Er ist jetzt das Ziel.
Der Menschenzug zieht sich auseinander, viele sind schon extrem erschöpft. Von hinten strömen Polizisten in den Tagebau, rennen ebenfalls. Nun geht es darum, wer zuerst am Bagger ist. Von links rasen Fahrzeuge des RWE-Wachschutzes an den Laufenden vorbei. Sie errichten eine Barriere vor dem Abraumbagger. Als Security-Leute auf die ersten Demonstranten losgehen und Polizisten wieder mit Tränengas schießen, kommt der "pinke Finger" zum Stehen und wird von Polizisten eingekesselt.
Der Wettlauf ist zu Ende. Den Bagger haben sie zwar nicht ganz erreicht, trotzdem ist die Stimmung euphorisch. Das Bild der mehr als zweihundert entschlossenen Klimaaktivisten mit ihren Transparenten und ihrer Forderung nach einem konsequenten Kohleausstieg ist jetzt in der Welt. Damit muss RWE leben. Auch der "grüne", der" blaue" und der "gelbe Finger" haben es in den Tagebau und zum Teil sogar auf die Bagger geschafft. "Ich muss sagen, ich hätte nicht erwartet, dass wir überhaupt reinkommen", sagt Leo sehr zufrieden. "Aber irgendwie haben wir es geschafft."
Siehe auch:
sowie:
http://www1.wdr.de/themen/archiv/sp_braunkohle/braunkohle-klimacamp-118.html
Der Widerstand geht weiter. Hier ein Bericht über die Besetzung der Hambach-Kohle-Bahn:
https://www.youtube.com/watch?v=jB2sczFUkXQ
Andante an der Kante:
http://divergences2.divergences.be/spip.php?article1261&lang=de
Video: Ausschnitt aus dem Konzert
Längeres Video (22 min,) von der Konzertaktion: