Quo Vadis?
Zum Verständnis von Gewaltfreiheit
On-line gesetzt am 2. April 2014
zuletzt geändert am 18. Juli 2018

Oft werden Worte von verschiedenen Menschen in unterschiedlicher Bedeutung verwendet, was die Verständigung ziemlich erschwert. Die inhaltliche Bedeutung kann sich verändern, sowohl in abwertender Richtung z. B. durch den Gegner, wie auch in positiver Richtung, wenn politische Bewegungen durch erkennbare Erfolge im öffentlichen Gebrauch eine sympathiebesetzte Aufwertung ihrer zentralen Begriffe erreichen.

In einer lockeren Serie soll hier dokumentiert werden, wie verschiedene gewaltfreie Organisationen und Kampagnen Kernbegriffe wie gewaltfrei, gewaltfreier Widerstand,gewaltfreie Gesellschaftsveränderung, Ziviler Ungehorsam und ähnliches verstehen.

Ein Beispiel:

Quo Vadis?

Aus dem Grundsatzprogramm von Eirene

Am 18. Februar 1957 lud der Generalsekretär des Weltkirchenrates, Dr. Visser’t Hooft, Vertreter der Friedenskirchen, der Mennoniten, Quäker und Brethren, und des Internationalen Versöhnungsbundes zu einer Diskussion über die Gründung eines ökumenischen Friedensdienstes ein. Visser’t Hooft war schon lange in der Friedensarbeit engagiert. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er unter anderem mit Dietrich Bonhoeffer zusammen gearbeitet und für den deutschen Widerstand gegen Hitler Kontakte ins Ausland geknüpft.

1956 hatte er mit einer Vertreterin der französischen Flüchtlingsorganisation CIMADE Algerien bereist und die Grauen des dortigen Kolonialkrieges kennen gelernt – eines Krieges, den viele Nordafrikanerinnen und Nordafrikaner als Krieg der Christen gegen die Muslime verstanden.

André Trocmé, der Vertreter des Internationalen Versöhnungsbundes auf dem Gründungstreffen, hatte während des Zweiten Weltkrieges als Pfarrer von Le Chambon-sur-Lignon in Südfrankreich mit seiner Gemeinde gewaltfreien Widerstand gegen die Verordnungen des mit Hitler verbündeten Vichy- Regimes geleistet und verfolgten Jüdinnen und Juden das Leben gerettet. Als französischer Soldat in Marokko hatte er sich geweigert, eine Waffe zu tragen und begonnen, an einer Strategie des gewaltfreien Widerstandes zu arbeiten.

André Trocmé und Peter Dyck, Pfarrer der amerikanischen mennonitischen Kirche und langjähriger Direktor des Mennonite Central Committee (MCC) in Europa, waren die treibenden Kräfte, einen Dienst der Versöhnung zwischen den Völkern, den Christlichen Friedensdienst EIRENE, ins Leben zu rufen.
Sie waren überzeugt vom christlichen Bekenntnis zur Gewaltfreiheit und geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der antikolonialen Bewegungen.

EIRENE wurde schließlich am 14. September 1957 in Chicago von den Friedenskirchen der Mennoniten und der Brethren gegründet. Frieden zu stiften und eindeutig Nein zur Gewalt zu sagen, waren die wichtigsten Motivationen der Gründer. Sie wussten aber auch, dass Frieden ohne Gerechtigkeit nicht möglich ist. Nach Jahrhunderten europäischen Herrschaftsdenkens und Kolonialismus sollte der Freiwilligendienst in Projekten Zeichen für ein neues partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Ländern des Südens und des Nordens sein. Wesentlicher Inhalt der Arbeit von EIRENE war daher von Anfang an die praktische Solidaritätsarbeit: gemeinsam für gerechtere Strukturen eintreten, mit den Entrechteten zusammen leben, andere Kulturen und Religionen kennen lernen sowie Begegnung und Austausch fördern. Als Zeichen der Solidarität mit der breiten Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und um deutschen Kriegsdienstverweigerern eine konkrete Alternative zu bieten, wurde das Internationale Büro von EIRENE in Deutschland eingerichtet.

André Trocmé nutzte seine guten Kontakte im gerade unabhängig gewordenen Marokko, um das erste Aktionsprogramm des Friedensdienstes EIRENE aufzubauen. Schon am 27. November 1957 traf der erste Freiwillige aus Holland in einem landwirtschaftlichen Projekt ein. Zwei Wochen später nahm ein EIRENE-Freiwilliger aus Frankreich in einem Flüchtlingslager für algerische Flüchtlinge seinen Dienst auf.

Eirene und Gewaltfreiheit

Gewaltfreiheit ist für EIRENE seit Gründung der Organisation Weg und Ziel. Das Engagement von Hildegard Goss-Mayr, Mitglied des Versöhnungsbundes und des EIRENE-Beirates, steht hierfür beispielhaft. Sie hat sich seit über 50 Jahren in verschiedenen Konfliktregionen der Erde für gewaltfreie Alternativen eingesetzt. Unter anderem konnte sie gemeinsam mit ihrem Mann Jean Goss durch gewaltfreie Trainings mit christlichen Basisgruppen einen Beitrag zum friedlichen Sturz der Marcos-Diktatur auf den Philippinen leisten.

EIRENE ist auch vom Leben und Wirken Mahatma Gandhis und der von ihm entwickelten Lehre der Gewaltfreiheit Ahimsa beeinflusst. Ahimsa fußt auf dem Gedanken, dass Gewalt nur neue Gewalt und dass Hass nur neuen Hass erzeugt. Jede Willkür, jeder Missbrauch der vorhandenen Macht, auch „im Dienste einer guten Sache“, steigert nur den wilden Drang nach Herrschaft und Macht über andere Menschen.

Gewaltfreiheit ist keine passive Haltung, sondern bedeutet, sich aktiv für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen.

Menschen, die gewaltfrei für eine gerechte Welt eintreten, sind uns bei EIRENE Vorbild. Sie geben uns Kraft in unserem Glauben und unserem Handeln. Die Werte, auf denen gewaltfreies Handeln basiert, sind nach unserer Überzeugung universell und sowohl in den Religionen der Welt als auch in der humanistischen Tradition eingebettet. Eine verstärkte Auseinandersetzung mit gewaltfreien Traditionen anderer Kulturen und Religionen eröffnet die Möglichkeit, wirkungsvoll für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten.

Gewaltfreiheit als Struktur- und Handlungsprinzip geht über den Einsatz für Frieden hinaus. Auch Militärs behaupten und glauben, Frieden zu sichern.
Doch ein Waffenstillstand, so wichtig er auch ist und so sehr EIRENE ihn in Konfliktfällen unterstützt, wird schnell zur Friedhofsruhe. Hinter offener ewaltausübung liegen oftmals strukturelle Gewaltverhältnisse und Interessenkonflikte. Wenn diese nicht angegangen werden, wenn sie in Zeiten von Waffen-stillstand nicht in Richtung von mehr Gerechtigkeit und Partizipation aller transformiert werden, ist die Gefahr groß, dass gewalttätige Konflikte immer wieder erneut ausbrechen.

Gewalt aufzudecken und zu benennen, sind die ersten Schritte zur Gewaltfreiheit. Johan Galtung, EIRENE- Beiratsmitglied, hat auf die Formen struktureller Gewalt aufmerksam gemacht, die in politischen, ökonomischen und kulturellen Prozessen verankert sind, an die wir alle gewöhnt sind. Wenn andere Menschen oder Gruppen verdinglicht und entmenschlicht werden, ist das Fundament für strukturelle Gewaltverhältnisse gelegt. Zum Beispiel wenn Personen nur noch in ihrer Funktion als Arbeitskraft und Kostenfaktor wahrgenommen werden und nicht mehr als Menschen, die ein Dach über dem Kopf, Bildung und Gesundheitsversorgung, Muße, Sicherheit sowie Essen und Trinken brauchen, um ein Leben in Würde führen zu können. Entmenschlichung findet auch dort statt, wo Menschen anderer Nationalität, Religion oder Hautfarbe als Bedrohung wahrgenommen werden.

Gewaltfreiheit ist nicht mit Neutralität zu verwechseln.

Sie erfordert immer Parteilichkeit und Parteinahme für die Opfer der Gewalt, sei sie individueller, gesellschaftlicher, staatlicher oder struktureller Art. Gewaltfrei handelnde Menschen schweigen zu keiner Form der Gewalt – weder im öffentlichen noch im privaten Bereich. Gewalt in der Familie wird von ihnen genauso angeprangert wie Gewalt auf der Straße, vom Staat begangene Menschenrechtsverletzungen, einschließlich sexualisierter Gewalt im Krieg. Doch die Grenzen zwischen gut und böse, zwischen gewaltfrei und gewalttätig, verlaufen nicht nur zwischen unterschiedlichen Menschen, sondern finden sich in jedem Menschen. Das Streben nach Gewaltfreiheit beinhaltet daher auch die Auseinandersetzung mit den eigenen gewalttätigen Anteilen und Aggressionspotenzialen.

Die eigene Gewalttätigkeit anzuerkennen und die Arbeit an ihrer bewussten Transformation sind wichtige Schritte für gewaltfreies Leben und Handeln. Wenn wir lernen, mit der eigenen Aggressivität bewusst umzugehen, kann dies zu einer schöpferischen Lebenskraft werden. Das heißt in der konkreten Auseinander- setzung mit Gewalttätern und Gewalttäterinnen trotz aller verständlichen Wut, Empörung, aufkommendem Hass oder dem Wunsch nach unmittelbarer Bestrafung, zu versuchen, sie zu verstehen und ihnen Wege zu Veränderung zu ermöglichen.

Gewaltfreiheit fordert nicht nur politischen Einsatz, sondern prägt auch die eigene Person, das Alltagsverhalten und die Beziehungen zu anderen und zur Natur. Zu Gewaltfreiheit gehört daher auch, die Gewaltpotentiale in unseren mangelhaften Kommunikationsstrukturen aufzudecken und neue Möglichkeiten einzuüben, gewaltfrei miteinander zu kommunizieren. Der Mensch ist eine untrennbare Einheit aus Leib, Seele und Geist. Für EIRENE ist daher ein wichtiger Teil von Gewaltfreiheit, die Kraft der Stille kennen zu lernen und in der eigenen Mitte zu ruhen, zu meditieren. Dies hilft, mit bewusster und unbewusster Lebensenergie, auch mit Aggression, umzugehen. Doch Meditation und Gebet ersetzen nicht das gemeinsame Nachdenken über persönliche und politische Erfahrungen oder die konkrete Aktion. Vielmehr durchdringen und ergänzen sich Stille, Nachdenken und gemeinsames Handeln in Form eines dialektischen Prozesses.

Gewaltfreie Aktion

Gewaltfreiheit ist nicht passiv, sondern bedeutet aktives Handeln. Wenn Regierungen ungerechte Strukturen aufrechterhalten oder verstärken, kann gewaltfreies Handeln erfordern, öffentlich Gesetze zu übertreten. Die Wahl gewaltfreier Mittel richtet sich nach dem Prinzip der Angemessenheit und bewegt sich je nach Dringlichkeit, Wichtigkeit und Schärfe der Auseinandersetzung zwischen gesetzmäßigem Protest und zivilem Ungehorsam. Um Ungerechtigkeiten, Missständen und Gewalt entgegen zu treten, wählen gewaltfrei Handelnde Methoden, die den angestrebten Zielen entsprechen. Daher arbeitet EIRENE mit gewaltfreien Organisationen und Bewegungen zusammen.

Gewaltfreiheit sucht nach Wegen aus der Gewalt.

Konstruktive Alternativen zu entwickeln führt die gewaltfreie Aktion fort. Alternativprojekte setzen Zeichen und können Wegweiser für eine gewaltfreie Zukunft sein.

Gewaltfreiheit als wegweisendes Prinzip

Bei EIRENE arbeiten Menschen, die sich vom Prinzip der Gewaltfreiheit leiten lassen. Das heißt nicht, dass diese Menschen in allen Fragen nationaler und internationaler Politik eine einheitliche Meinung vertreten. EIRENE setzt sich für die Beseitigung militärischer Strukturen, internationale Abrüstung mit ersten Schritten ohne Gegenleistung, für Gewaltverzicht und gegen Waffenproduktion und -handel ein. „Rüstung tötet auch ohne Krieg“ – darauf wies die verstorbene Theologin Dorothee Sölle immer wieder hin, die auch als Beiratsmitglied bei EIRENE engagiert war. Krieg und das Drohen mit Krieg dürfen kein Mittel der Politik sein, denn ein tragfähiger und gerechter Frieden entsteht nicht durch gewaltsame Befriedung. Inwieweit internationale Blauhelmeinsätze oder der Einsatz einer internationalen Polizeitruppe in Extremsituationen notwendig sind, um Menschen vor Gewalt und Terror zu schützen, darüber diskutieren wir kontinuierlich und in jeder konkreten Konfliktsituation neu. Wir verorten uns auf der Seite jener, die mit gewaltfreien Mitteln für Frieden und Gerechtigkeit eintreten und sind überzeugt, dass internationale Solidarität, Gerechtigkeit und Interessenausgleich sowie Maßnahmen und Methoden ziviler Konfliktbearbeitung die beste und nachhaltigste Krisenprävention sind. Sie sind auch ein wichtiges Mittel, um bereits gewalttätig ausgetragene Konflikte zu überwinden.